Montag, 21. Juni 2010

Strampeln auf der Route 66


Die Idee, diese alte, historische Strasse mit dem Fahrrad zu bewältigen, entstand spontan während einer Abteilungsfeier. Die Planung der Tour jedoch gestaltete sich ziemlich aufwändig: Die verfügbaren Angaben zum Streckenverlauf stammten entweder aus der Nachkriegszeit und hatten inzwischen nur noch historischen Charakter; oder sie waren hauptsächlich auf das Befahren der Strecke mit dem Auto ausgelegt. Durch private Kontakte konnten wir auch die Tagebuchaufzeichnungen einer Amerikanerin, die diese Strecke 1938 bereiste, in unsere Planung einfliessen lassen.

Die Problematik der Streckenplanung läßt sich mit einem kleinen, historischen Kurs erläutern: Vor 200 Jahren quälten sich die Wagentrecks von Ost nach West durch das Land - und bildeten so die Vorläufer für die spätere Eisenbahnlinie. 1927 wurde schließlich das National Highway System ins Leben gerufen - dennoch blieb die Fernstrasse ein Engpaß und mußte durch moderne Strassen nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs ersetzt werden. Mit dem Aufbau des National Interstate Highway Systems in den Jahren 1957 bis 1984 kam auch das Ende der legendären Route 66: Vier- und sechsspurige Autobahnen bedecken heute Teilstrecken der alten „Hauptstrasse Amerikas“, der „Mother Road“, wie man sie auch nannte. 1987 wurden schließlich die offiziellen Strassenschilder entfernt.

Für unser Vorhaben, die historische Route zu absolvieren, ist also eine solide Grundausbildung als Pfadfinder notwendig, bevor wir uns auf den Weg machen können. Über die Rocky Mountains soll unsere Tour durch die „Große Schüssel“ (Great Basin) mit ihren Trockentälern und der Mojave-Wüste führen und nach Überqueren der südlichen Sierra Nevada in den Pacific Mountains an der Pazifik-Küste in Los Angeles enden. Dabei gilt es, drei Zeitzonen von Ost nach West sowie den Mittleren Westen und die heisseste und trockenste Ecke der USA zu durchqueren. Da - praktischerweise - die Grundrichtung nach Westen vorgegeben ist, können wir uns hauptsächlich an den Eisenbahnlinien oder Autobahnen, die ihren Beitrag zum Tod der historischen Route 66 leisteten, orientieren.

Dennoch müssen wir schnell feststellen, daß die traditionelle Fahrtrichtung von Ost nach West an manchen Tagen gegen die vorherrschende Wetter- und Windrichtung durchgestanden werden muß. Was auf dem texanischen Hochplateu als extrem hinderlich empfunden wird, kann später - in der kalifornischen Mojave-Wüste bei Temperaturen von 47°C - aber auch eine willkommene Erfrischung sein.

Weiter im Westen folgen wir der alten Streckenführung, deren Verlauf schon deshalb leicht zu finden ist, weil es in diesem Abschnitt weit und breit keine andere Strasse gibt. In größeren Orten folgen wir den Hinweisschildern. Doch auch hier irren wir manchmal umher, weil sich wieder einmal zwei oder gar drei Streckenführungen aus den 20er und 30er Jahren mit denen neueren Datums kreuzen. Auf dem Land helfen wir uns dadurch, daß der Fahrer des Begleitfahrzeugs die Strecke auskundschaftet und sich dann sichtbar an den Abzweigungen postiert.

Die Strassenköter haben wir nur in Illinois und im östlichen Teil von Missouri auf uns aufmerksam gemacht: Dort, wo die Häuser noch nahe der Strasse liegen und die Vorgärten der Nachbarn zaunlos ineinander übergehen, dösen sie träge in der Sonne - um sich fast lautlos an unsere Felgen zu heften, sobald wir an ihnen vorbei geradelt sind. Wir suchen unser Heil jedesmal in einem rasanten Spurt - bei dem den untrainierten Tieren irgendwann die Puste ausgeht. Die Suche nach einer „Anti-Köter-Waffe“ endet schließlich im Erwerb von drei Pfeffer-Spraydosen, die jedoch nie zum Einsatz kommen werden. (Später, in Arizona, können wir uns schließlich doch noch von der Wirkungsweise und der Durchschlagskraft überzeugen, als sich ein Teamkollege im vollbesetzten Auto auf seine immer noch gut gefüllte Spraydose setzt...) Je weiter wir nach Westen kommen, desto spärlicher werden Farmen und Häuser - und damit auch die Hunde.

Dafür hält Missouri noch eine Invasion von Schnappschildkröten auf den Strassen für uns bereit, die sich blitzschnell in ihre Panzer verziehen und die Landungsklappe schliessen, wenn wir herangeflitzt kommen. Umso häufiger werden dann die Begegnungen mit Schlangen, die auf dem warmen Asphalt zusammengerollt auf uns warten.

Aber nicht nur unsere tierischen Begegnungen haben es in sich - schließlich hält die Route 66 zahlreiche Ikonen bereit, die wir zuvor in Büchern oder Dokumentarfilmen gesehen hatten: Lucille Hammons betreibt mir ihren 82 Jahren immer noch ihre Tankstelle in der Nähe von Hydro in Oklahoma. Angelo Delgadillo, Gründer der Route 66 Association, besuchen wir in seinem mehrfach dokumentierten Frisörladen in Seligman in Arizona. Danach treffen wir das liebenswerte Unikum Bob Waldmire, der sich für die Umwelt und „seine“ Route 66 einsetzt: Der Eremit lebt und arbeitet in einer der unwirtlichsten Gegenden von Arizona. Seinem einzigen Haustier - einer echten Klapperschlange - hat er am Vorabend unseres Besuchs die Freiheit geschenkt. Eine 80jährige Dame, die zu Fuß auf dem Weg von Los Angeles nach Chicago unterwegs ist und sich dabei von ihrem Hund einen Einkaufswagen ziehen läßt, haben wir leider um einen Tag verpaßt.

Natürlich lassen wir es uns nicht nehmen, bei der Quartiersuche nach Relikten der alten Zeit Ausschau zu halten. So steigen wir zum Beispiel im legendären Waggon Wheel Motel in Cuba/Missouri, im Forest Manor Hotel in Lebanon/Missouri sowie im Route 66 Motel in Seligman/Arizona ab.

Drei Wochen auf dem Fahrrad haben uns eine sehr direkte Beziehung zu dem Land und seinen Menschen aufbauen lassen. Jeder von uns hat seine Eindrücke auf unterschiedliche Weise verarbeitet und gespeichert. Das an einigen Stellen brüchige Asphaltband von Ost nach West hat uns einen unvergeßlichen und interessanten Querschnitt des Westens der USA gezeigt.

© OScAR 1995. Verkürzte Ausgabe.

Donnerstag, 17. Juni 2010

Telefonterror

Diese technische Errungenschaft ist so lange segensreich, bis sie früher oder später zum reinen Terror mutiert. Und das ist heute geschehen.

Jeder, ob Gross oder Klein, ob Jung oder Alt, scheint mindestens zwei dieser High-Tech Werkzeuge ständig am Mann oder an der Frau zu tragen. Und getragen werden diese nicht in Taschen oder Jacken, nein, immer in der Hand. Weshalb viele davon hin und wieder fallen, zerspringen oder sogar in der Toilette ersaufen.

Störend für mich ist weniger das Klingeln oder diese höchst seltsamen Töne oder Melodien, sondern nur die Lautstärke, in der diese Winzlinge immer wieder angeschrien werden. Was haben diese armen Geräte nur Böses angestellt? Wahrscheinlich sind sie vor ein paar Tagen aus der Hand gesprungen, gefallen, und man ist noch immer erzürnt darüber und bestraft sie auf diese brutale Weise.

Ausserdem kann ich mich des Eindrucks nicht erwehren, dass in meiner Gegenwart die Leute um mich herum immer nur solche Leute anrufen, die hochgradig schwerhörig sein müssen. Oder selbst über kein derartiges Gerät verfügen. Oder beides. Oder sehr weit entfernt weilen.

Da bin ich dem Strassenlärm endlich entkommen und will bei einem Milchkaffee unter einem einladenden Sonnenschirm und bei Vogelgezwitscher etwas relaxen. Ein gesetzter Herr kommt irgendwann hinzu und macht sich am Nachbartisch breit. Er ist ruhig und zurückhaltend, bis er seine Bestellung aufgegeben hat. Durch einen wohl hörbaren Zuruf quer über den Platz direkt in die Cafeteria hinein. Oha! Einer von der lauten Sorte! Er wird doch nicht etwa Gebrauch machen wollen von seinen drei Handys, die ordentlich aufgereiht vor ihm auf dem Tisch liegen? Er wird.

Und was dann der Herr am Nachbartisch in den nächsten zehn Minuten diesem für mich nicht sichtbaren Schwerhörigen, der mindestens zwei Strassen weiter irgendwo hilflos herumstehen muß, tatsächlich wortgewaltig zu empfehlen scheint, bleibt für mich verschlossen. Zehn Minuten lang. Laut und vernehmlich. Ohne Rücksicht auf die Vögel und auf mich. Das Ende seiner Kommunikation ist eine wahre Erlösung. Erst dann wagt die Bedienung, ihm den Kaffee zu servieren.

Er denkt nach und nimmt ein Schlückchen von seinem Kaffee. Damit muß er wohl seine strapazierte Stimme geölt haben, denn er greift zielstrebig zu Handy Nummer 2, wählt eine lange Nummer --- Herrjeh, wieder ein lautes Ferngespräch? Und der ferne Angerufene gibt das Startzeichen für eine Wiederholung des vorherigen Anrufs. Ich bin sicher, der Herr am Nachbartisch betreibt eine Telefonkette, und jetzt muß die wichtige Nachricht erneut verkündet werden. Jedem Einzelnen, in der Strasse, auf dem Platz und vor allem mir, obwohl ich sie doch schon kenne und mein Trommelfell noch immer vibriert.

Mit Entsetzen sehe ich den Herrn am Nachbartisch schon mit Handy Nummer 3 spielen.

Da platzt mir der Kragen und in mir reift der verwegene Plan, diesen Herrn am Nachbartisch brutal mund-tot zu machen. Oder besser gesagt, handy-tot. Nein, nein, ich entreisse ihm nicht sein Eigentum. Nein, nein, ich zerstampfe es nicht. Nein, nein, ich entführe es auch nicht. Nein, ich lege einen winzig kleinen Schalter um an einem unscheinbar aussehenden Kästchen und zähle bis 5.

Bei 6 tritt das Unerwartete ein. Nach ein paar sich wiederholenden Worten, an deren Ende sicherlich ein Fragezeichen steht, schauen die Vögel irritiert zum Nachbartisch. Dort schaut man ebenso irritiert auf die technische Errungenschaft Nummer 2, gibt ihr einen Klaps auf den Po, wirft einen Blick nach oben, und als von dort weder Hilfe noch Signale kommen, und alle anderen Handys auf seinem Tisch ebenfalls den Empfang eingestellt zu haben scheinen, ist endlich Ruhe eingekehrt. Für die Vögel und für mich.

© OScAR 2010.

Dienstag, 15. Juni 2010

Feueralarm


Im Ernstfall ist es dann nicht mehr so lustig und gesellig, fürchte ich. Denn irgendwo in dem Einkaufs-Center muß es einen Alarm gegeben haben. Zwar sehe ich den einen oder anderen Angestellten mit farbiger Warnweste herumlaufen, aber weder die Käufer noch die Verkäufer scheint das zu irritieren. Das Leben im Center pulsiert ungebrochen weiter.

Mehrere Polizeifahrzeuge und ein Krankenwagen kommen lautstark herbeigeeilt und blockieren an der Vorderseite des Gebäudes den Haupteingang, der ja gerade in diesem Moment der Hauptausgang für die Flüchtenden sein sollte. Also strömen und zwängen sich die nunmehr alarmierten Menschen dort hindurch, während der Verkehr über die 10-spurige Straße ungestört dahinfließt. Nun ja, gestört fühlen sich die Autofahrer schon ein wenig von den sich ausbreitenden Menschenmassen.

Die Strasse, die hinter dem Gebäude entlang führt, wurde gerade auf eine einspurige Einbahnstrasse umgestellt und beidseitig von Metallpflöcken und Betonkübeln flankiert. Ein Halten, Parken oder ein Sich-Auflösen ist da nicht mehr möglich. Sofort nach Alarm rast ein Feuerwehrwagen mit großer Leiter auf dieser schmalen Einbahnstrasse heran, stoppt vor dem Center und wartet auf den Rest der Truppe, der sich ebenfalls hörbar von irgendwoher nähert. Voller Neugier oder auch nur total ahnungslos oder überaus schlau sind dem Feuerwehrwagen unbeteiligte Autos gefolgt und bilden jetzt mit dem Feuerwehrleiterwagen an der Spitze eine stehende Prozession.

Weil die restlichen Feuerwehrautos einfach nicht näher kommen können, eilen nach einiger Zeit und nach reiflichem Überlegen vom Ende der Schlange her schwerbepackte Feuerwehrmänner zum Einsatzort, mussten sie doch ihre Einsatzfahrzeuge im Stau zurücklassen. Ganz am Ende reiht sich ebenso lautstark ein Rettungswagen ein, der sich jedoch etwas weit entfernt vom Ort des Geschehens wiederfindet.

Und dann ist es plötzlich doch ernst geworden. Evakuierung. Undeutliche Lautsprecherdurchsagen fordern wohl dazu auf. Weder die vielen Touristen noch ich erkennen den Ernst der Lage. Wir folgen den Einheimischen. Deshalb strömen die evakuierten Menschen aus dem Gebäude auf die befahrene Strasse und schaffen es auch ohne polizeiliche Unterstützung, endlich den gefährlich fliessenden Verkehr dort zum Erliegen zu bringen. Derweilen stehen die Polizisten in Grüppchen plaudernd und rauchend zusammen.

Vorschriftsmäßig bei Grün überquert eine Gruppe Kleinkinder in Begleitung von Erwachsenen die Strasse, stemmen sich tapfer gegen den herauseilenden Menschenstrom, und wird von niemandem am Betreten des Centers gehindert; etwas später versuchen die erwachsenen Begleiter dann doch noch, die Kinder heil um das Gebäude herum zu führen. Die Kinovorstellung wird heute wohl ausfallen.

Nun haben sich die Angestellten der Geschäfte in Gruppen und in farbigen Warnwesten um das Center herum versammelt. Das ist doch eine günstige und gesellige Gelegenheit, ein paar Gruppenfotos zu schiessen. Also dirigieren ein paar Herren ohne Warnwesten die großen und kleinen Ansammlungen zu einem fotogenen Platz, wo man sich jauchzend und strahlend und rauchend den digitalen Objektiven präsentiert. Nicht vergessen, damals, beim Feueralarm.

© OScAR 2010.

Mittwoch, 13. Januar 2010

Shopping Center

Behutsam bevölkern sich die Gänge des Shopping Centers. Die Mehrzahl der Geschäfte jedoch zeigt sich noch verschlafen und kann die Rollgitter wie schwere Augenlider noch nicht so richtig öffnen. Es ist einfach noch zu früh am Tag. Nur noch ein Viertelstündchen, bitte.

Mein Blick schweift weiter durch das Rund. Sieh mal dort, ein Sperling hat sich tatsächlich irgendwo Einlaß verschafft und fliegt fast unbeholfen in der gläsernen Kuppel. Aufgeregt hüpft er von Stahlverstrebungen zu Stahlverstrebung. Er kann es kaum erwarten, bis endlich die Fast-Food Läden öffnen und seinen morgendlichen Happen sichern.

Das aber interessiert den Schuhputzer dort links an der großen Säule nicht, denn er bereitet gewissenhaft sein Creme- und Bürstensortiment aus und nimmt erst einmal selbst Platz auf seinem Schuhputzerthron. Er hat alle Zeit der Welt heute morgen. Neben ihm gibt es in Lissabon schätzungsweise nur noch zwei Dutzend Schuhputzer, sogenannte engraxadores, die ja eigentlich und offiziell polidor de calçado, also Schuhpolierer heissen. Für zwei Euros bringt er jeden Lederschuh zum Strahlen. Doch sein Blick fällt fast nur noch auf Tennis- und Sportschuhe.

Auch die fleissigen Abfallsucher drehen schon ihre Runden und inspizieren gewissenhaft die Sammelstellen; ihre Arbeit ist leichter geworden, nachdem auch die Mülltrennung Einzug gehalten hat in die Sauberkeit des Centers; lediglich die Touristen stören hin und wieder die Übersichtlichkeit der Sortierung, weil sie immer noch nicht die Beschriftung auf dem Abfallbehälter entziffern können. Aber so früh am Morgen sind die Behälter noch leer. Sei es drum, immer wachsam sein.

Flotte Verkäuferinnen huschen zu den halb geöffneten Türen, um den neuen Verkaufstag zu beginnen. Auf halbem Weg verweilen sie für ein paar Minuten an einem Stehcafe, um hastig einen Schluck starken Kaffees aus einer Puppenstubentasse zu trinken, dazu die zwei Bissen eines Törtchens, dessen Rest zusammen mit der Papierserviette, die zu gewachst ist, um Finger oder Lippen wirklich reinigen zu können, geschickt in die Abfallbehälter zu Füssen befördert werden. Dann huschen sie weiter.

Die Mitglieder der Rentner-Band studieren die neuesten Zeitungen, oder das, was von gestern liegengeblieben ist. Auch wenn es nur der Anzeigenteil ist. Einer liest und spricht das Gelesene vor sich hin, wie anno in der zweiten Schulklasse. Würde ich die hiesige Sprache sprechen, könnte ich synchron mit Vorleser ebenfalls die Zeitungen studieren.

Währenddessen patroulliert der ernsthaft dreinschauende Security Mann mit dem gesprächigen Funkgerät in der Hand, während erste Touristen sich verirren, Rollkoffer hinter sich herziehend, die man so früh am Morgen noch nicht losgeworden ist.

Und eine Parade von Kindergartenkindern in bunter aber einheitlicher Uniform bewegt sich langsam und auf ihre Weise leise in Richtung Kino, jeweils zwei Kinder Hand-in-Hand, vorne und hinten flankiert von Erwachsenen in gelben Sicherheitswesten. Der Security Mann eilt hinzu und sperrt die Rolltreppe für die Parade, während oben schon der Kollege für den sicheren Empfang der Kleinen bereit steht. Kurze Zeit später aber ziehen lange Schlangen von lärmenden Schulkindern durch die Gänge und haben ebenfalls das Kino als Ziel.

Die übergroßen Fernsehschirme über meinem Kopf werden zuckend aus dem Schlaf gerissen und beginnen unwillig mit dem Tagespensum. Werbung, Kurznachrichten, Werbung, Wetter, Werbung, Sportfetzen, Werbung und Feuchtigkeits- und CO2-Daten zur Zeit im Gebäude. Und zugleich rieselt das Wasser hoch oben über das gewölbte Glasdach und wird später für etwas Kühlung sorgen. Die Möven haben diese Kneipp-Kur ebenfalls entdeckt und stehen oder watscheln im Wasser hoch über meinem Kopf, während ich nur die breiten Füßchen von unten sehen kann.

Ein neuer Verkaufstag hat begonnen.

© OScAR 2010.

Samstag, 12. Dezember 2009

Silberfolie


Ein wundervolles Wochenende in einem bezaubernden Märchenschloß liegt vor uns, als wir die A1 nach Norden unter uns abrollen lassen. 12,85 Euros signalisiert die Via Verde Anzeigetafel, als wir die Autobahn verlassen und uns gen Osten wenden. Luso ist unser Ziel, denn dort oben im berühmten Forst mit 700 verschiedenen Baumarten, gepflanzt von Benediktiner Mönchen, hat man im 19. Jahrhundert neben einem Klosterlein ein Kleinod für den Monarchen errichtet. Und weil jener nur drei Jahre nach Fertigstellung darin lustwandeln konnte, weil man ihn nicht mehr haben wollte, den Monarchen, verlustieren wir uns für die nächsten zwei Tage darin. So die Planung.

Das Tor zur Einfahrt steht weit offen, der Schlagbaum ist geöffnet, das ehemalige Torwächterhaus signalisiert beginnenden Verfall. Auf dem Kopfsteinpflaster rumpelnd nehmen wir die leichten Serpentinen hinauf zum Schloß. Wir umrunden die im Zuckerbäckerstil überladene Gebäudeansammlung samt Gartenanlage und Teich, folgen dezenten Hinweisschildern, können aber erst in Runde 3 den Hoteleingang entdecken.

Das Hotel Palace do Buçaco ist auf den ersten Blick auch innen ein mit antiken, dunkelbraunen Möbelstücken überladenes Gebäude, das kaum Raum zum Atmen läßt, obwohl alle Räumlichkeiten nahezu doppelte Raumhöhe haben. Vieles hat man wohl erhalten können, der Ritterrüstung auf dem Treppenabsatz sogar Leuchtdioden in die Augenhöhlen eingesetzt, die Lichtschalter sehr kindersicher in 1,80m Höhe angebracht. Eigener Wein und eigener Honig zusammen mit Ansichtskarten und Bildbänden stehen unübersehbar bereit für den Touristen.

Der hoteleigene Schlüsselanhänger zieht die Hosentasche energisch hinunter, als wir auf knarrenden Holzdielen und über gefährlich abgetretene Teppichläufern durch die Gänge schreiten. Wir sind ganz besondere Gäste, denn die Teppiche sind rot. Oder waren es zumindest irgendwann einmal. Das Zimmer ist großzügig und überladen. Die Farbe blättert von Wänden und Fensterrahmen, die antiken Schubladen klemmen in antiken Möbelstücken, uralte Heizgeräte in den Wänden werden kaschiert durch billige Baumarktheizlüfter. Das Obst ist frisch und die Wasserflasche trägt das Luso-Etikett. Der Teppichboden ist ausgefranst und von Flecken unbekannter Herkunft übersät. Sternenabzug.

Das Bad ist ebenfalls großzügig, die Tür ist verzogen und läßt sich nicht schliessen. Die Armaturen sind antik und funktionieren deshalb nur bedingt. Die Abflüsse sind verstopft. Das warme Wasser kommt sofort. Die in Hotels dieser Preisklasse üblichen Toilettenartikel fehlen gänzlich, zwei winzige Leuchtstoffröhren flankieren den Spiegel und tauchen das Bad in gespenstisches Licht. Keine Ablage für Kamm oder dritte Zähne. Sternenabzug.

Kühle Nachtruhe bei geöffnetem Fenster ist für mich ein normaler Zustand, für meine Begleitung aus Lissabon aber eine völlig neue Erfahrung. Lediglich zwei Hunde unterhalten sich über größere Entfernung über ein wohl interessantes Thema. Wir schlafen tief und verpassen fast das Frühstück.

Das Palace do Buçaco ist in den gängigen Hotelbeschreibung mit 5 Sternen als Luxushotel der besonderen Art gepriesen. Weshalb wird dann eine Woche Halbpension für €420 verramscht? Die Familienkutschen vor dem Hotel und kreischende Kinder während des Frühstücks lassen erahnen, daß hier etwas nicht zusammen paßt.

Der Kaffee ist eine Zumutung, der Orangensaft entspringt einer chemischen Quelle, das Rührei ist eine Pampe, kaum Brotauswahl, ein wenig Käse, Marmelade, Obst aus der Dose und eine Sorte Cornflakes mit warmer Milch. Sternenabzug. Und noch ein Sternenabzug.
Das miese Frühstück ist plötzlich nicht mehr ganz so mies, wenn man es auf der überdachten Terrasse einnehmen kann. Mit Blick auf die Gartenanlage und die Wälder. Und wenn die verzogenen Kinder nicht wären, wäre es eine himmlische Ruhe. Leider schreien sich die meisten Gäste trotz gegenseitiger Tuchfühlung permanent an. Na ja, viel Tuch tragen sie nicht, T-Shirt, Bermudas und Badelatschen. Und telefonieren könnten sie glatt ohne Handy, denn ihre Stimmen tragen mit Sicherheit bis nach Coimbra.

Die Ruhe wird aber ziemlich schnell unterbrochen durch den Einfall von Tagestouristen, die ihre Autos und Busse auf jedem Fleckchen Erde plazieren, lauthals und heuschreckengleich alles erstürmen, erklettern, abreissen, fotografieren. Leere Flaschen, benutzte Taschentücher, Packpapier und leere Tüten sind deren Hinterlassenschaft. Dann ist wieder Ruhe eingekehrt. Und ich steige ein in die umgebende Waldlandschaft und finde eine Zeder, die nachweislich seit 1644 (?) dort steht und auch Napoleons und der Touristen Angriffe bisher überdauerte.

Bei genauerer Betrachtung entpuppt sich der Lüster im Zimmer als geniale Fälschung, denn hinter den Glasschalen hat man in Ermangelung von antikem Silber tatsächlich Silberfolie aus der Küche drapiert. Und der Mini-TV, den man ja eigentlich überhaupt nicht benutzt, läßt kümmerliche drei Kanäle flimmern. Sternenabzug.

Die Turmbesichtigung rundet das traurige Bild ab, das wir über diesen Palast gesammelt haben. Die Aussichtsplattform ist zugepflastert mit Satellitenschüsseln. Mit Sicherheit aber nicht für den kleinen Fernseher unten im Zimmer. Rostige Drähte halten zerfallene Bauelemente zusammen, eine Wasserrohrkonstruktion ersetzt auf abenteuerliche Weise eine Blitzschutzanlage und die verrostete Metallkugel auf der Turmspitze wird durch eine ebenfalls verrostete Metallleiter hilfreich gestützt. Beim Abstieg entdecken wir zwei völlig verwahrloste Stockwerke.


Wir erkunden die nahe Umgebung. Die Stadt Luso schlummert vor sich hin, das Therapiebad ist auf Dauer geschlossen, die Restaurants bezeichnen gefroren Fisch als tagesfrisch und die Stadt hat eine nagelneue Straße, in der sich Souvenirhütten aus dem Baukasten aneinanderreihen und Blödsinn made in China feilbieten. Lediglich die öffentliche Wasserentnahmestelle ist umlagert und ist lustig anzusehen, wenn Männlein wie Weiblein mit Unmengen Wasserkanistern die Wasserspeier umlagern und sich mit frischem Naß versorgen. Meine Begleiterin leert tatsächlich eine mitgebrachte Wasserflasche, um sie mit dem speziellen Wasser wieder zu füllen. Das Militärmuseum ist schon wieder geschlossen.

Ein kleines Restaurant mit dem Namen Astoria sei erwähnt, dessen Steak mich über so manche Enttäuschung hinweg tröstet. Leider führt man auch dort kein Corona Bier im Angebot. Und so wenden wir uns und statten Coimbra und der Universität einen Besuch ab, um uns danach wieder gen Süden zu bewegen.

© OScAR 2009.

Montag, 7. Dezember 2009

Oktoberfest

Irgendwie ist die Strasse entlang des Hafens verstopft. Nun, es ist Sonntag Nachmittag und wir sind umgeben von Ausflüglern. Also kriechen wir im Schneckentempo mit der Schlange. Oder vielleicht einfach links abbiegen und versuchen, auf Schleichwegen aus dem Ort zu kommen? Die nächstbeste Strasse soll uns hinaus führen.

Wir biegen ab und ich staune, denn da steht ein bayerischer Maibaum und ein Schild „Biergarten". Na, wenn das kein Fingerzeig ist! Oktoberfeststimmung in Portugal?

Wir parken und steigen die Stufen hoch zum besagten Biergarten. Schön ist es hier. Ein großer Garten, alte und schattige Bäume laden zum Verweilen ein und ein kleines Restaurant in der Mitte verspricht kühle Getränke und heisse Speisen. Bayerische.

Wir lassen uns nieder und warten mit klopfenden Herzen. Irgendwann hat das Klopfen ein Ende, denn die Bedienung ist mit anderen Sachen beschäftigt. Ich schaue mich um. Nur wenige Tische sind besetzt und es ist schon Abend geworden. Mein Instinkt rät mir, die Stufen hinab zu schreiten und es woanders zu versuchen. Meine Begleiterin möchte aber endlich etwas Deutsches probieren. Also warten wir.

Dann endlich kommt der nicht ganz so freundliche Kellner und knallt eine zerfledderte, klebrige und schmutzige Speisekarte auf den Tisch, als wäre er ein Schafskopfspieler. Und verschwindet irgendwo im Garten. Nun, wir haben Zeit und versuchen zu entziffern, was man hier so feil hält. Unter anderem Eisbein. Na ja, nicht so meine Geschmacksrichtung. Meine Interessierte erklärt mir, einem Deutschen, was man in Portugiesisch unter Eisbein geschrieben hat. Aha, das Knie eines Schweins mit Sauerkraut und Rotkohl und Chips. Ich lese schon weiter und finde, oha, Hax'n. Für eine oder für zwei Personen. Ich entscheide mich für eine kleine Hax'n.

Während wir immer noch warten, staune ich nicht schlecht, daß die portugiesische Erklärung für Eisbein und Hax'n völlig identisch ist. Bis auf den Preis.

Den endlich aus der Versenkung auftauchenden Kellner bitten wir um eine deutsche Speisekarte, die dann nicht an den Fingern klebt und wohl sehr, sehr selten benutzt worden ist. Und hier kann man nachlesen, was der Unterschied zwischen Eisbein und Hax'n nun wirklich ist. Also bestellen wir. Hax'n. Er vergißt zu fragen, ob wir auch etwas trinken möchten.

Nach fünf Minuten schlurft er heran und erklärt, ohne ein Wort des Bedauerns, daß es keine Hax'n gäbe. Wir weichen aus auf Eisbein. Oh Graus.

Nach weiteren fünf Minuten schlurft er heran und erklärt, ohne ein Wort des Bedauerns, daß es kein Eisbein gäbe. Wir weichen auf Nürnberger Würsten aus. Nein, nein, die gäbe es erst zum Abendessen. Und jetzt ist noch kein Abend. Wir weichen auf irgendetwas anderes aus. Das gibt es glücklicherweise und auch am frühen Abend. Das Erdinger Weißbier ist schal und warm.

Endlich versteht meine portugiesische Begleiterin, warum wir im letzten Krieg von den Alliierten immer nur „Krauts" gerufen wurden: Das bißchen Sauerkraut trieft in seinem Essigwasser und setzt ein paar Mini-Würstchen sofort unter dasselbe. Aha, deshalb habt ihr Deutsche immer so einen ernsthaften und schlechtgelaunten Gesichtsausdruck. Das bißchen Rotkraut dagegen mundet wider Erwarten, auch ohne eine kleines Apfelstück darin. Die Würstchen haben keinen Geschmack, nehmen stattdessen aber sofort den des Essigwassers auf.

Live Musik nur am Abend und bei einem Verzehr von mehr als 5 Euros. Das kann ich schon übersetzen.

Auf Nachtisch, Kaffee und Trinkgeld verzichten wir heute einmal und verlassen diese Stätte mit echt bayerisch-freundlichem Flair und ebensolcher Gastfreundschaft.

© OScAR 2009.

Samstag, 28. November 2009

Osterhase


Fast täglich schleicht der kleine Mann mit seiner gefüllten Plastiktüte hinüber zum grünen Park. Dort stolpert er von Strauch zu Strauch und jedesmal versteckt er einen neuen Abfallbeutel hinter einem Busch. Wie weiland der Osterhase. Seine Ostereier.

Nicht weit davon entfernt steigt der Geschäftsmann aus seinem auf dem Fußweg geparkten Citroen, richtet die gegelten Haare ein weiteres Mal, verschiebt die Krawatte um zwei Millimeter nach rechts und streicht unablässig das dunkelblaue Jacket glatt. Dabei verschlingt er hastig sein Frühstück, putzt noch schnell seine Schuhe mit dem fettigen Butterbrotpapier und läßt dieses elegant unter das Auto gleiten. Dann eilt er von dannen.

Gegenüber auf dem Parkstreifen für die modernen Pferdekutschen stehen sie aufgereiht und warten auf Gäste. Man wartet geduldig, der eine zeitungslesend im Auto, andere rauchend ans Blechkleid gelehnt, und einer geht ein paar Schritte zur Grünanlage. Er packt eine Tüte mit Apfelsinen aus, schält diese elegant und wirft die Schale ungerührt auf das Gras. Eine nach der anderen. Ein Kollege kommt dazu und macht ihm offensichtlich Vorhaltungen ob dieser Verschmutzung. Beide schreien sich immer lauter an, bis der Verschmutzer die Tüte hinterher wirft, in sein Taxi steigt und verschwindet.


Streunende Hunde und Portugiesen unterscheiden sich voneinander: Hunde heben beim Pinkeln das Bein. Nur die Rüden. Und Beide scheinen sich überall in der Stadt heimliche Reviere abzustecken. Lautlos, wie ich beobachte. Wie sonst ist zu verstehen, daß sämtliche Ecken und Nischen markiert werden und zum Himmel stinken. In aller Öffentlichkeit. Am hellichten Tag. Auch von den Hunden. Eine erstaunliche Fertigkeit ist zu erkennen, besonders bei Taxifahrern. Sie benötigen keine Hauswand oder Ecke oder Baum, nein, sie öffnen einfach die Autotür und schauen völlig uninteressiert dabei in die Gegend. Dabei zanken sich zwei Hunde um eine Plastiktüte.

Und dann tummeln sich noch die Spucker. Ihnen ist es gleich, ob nach rechts oder nach links. Zielgenau und überall. Nicht nur auf Strassen und Plätzen, nein, sogar im Supermarkt bei Obst und Gemüse. Dort, wo die Rentner ihre Runden zwischen den Regalreihen drehen und immer wieder den Geschmack der Weintrauben testen müssen, dort werden vernehmlich die unverdaulichen Reste auf den Boden gespuckt.

Regelmässig wie die ewigen Gezeiten an der Costa da Caparica öffnen sich die Türen von Bürogebäuden und Einkaufszentren und die Heerscharen von grauhäutigen, an den Händen zitternden und mit gierigem Blick nur auf den Eingang starrenden Tabak-Junkies fluten heraus. Sie reissen die Münder und Nasen auf, um endlich die ersehnte Luft zu atmen. Mitten in der vor den Türen wabernden Rauchwolke. Die ohnehin wenigen Worte werden sanft gedämpft von dem einheitsfarbenen Teppich aus Kippen und Asche, der sich bei jeder Flut vor den Türen anschwemmt.

Da steht er, im Hemd und leicht fröstelnd, der Beamte von CTT, im Eingang zur Post, lehnt an dem hüfthohen, qualmenden und übervollen Aschenbecher, zieht noch einmal gierig an der Kippe zwischen seinen gelbgefärbten Fingern und schnippt die Kippe auf den Boden. Zu den anderen. Dort qualmt sie bis zu ihrem endgültigen Ende.

Bedachtsam schiebt der grün gekleidete Strassenkehrer seinen grünen Karren über die qualmende Kippe. Er hat ein größeres Objekt am Ende der Strasse erspäht und nähert sich diesem äußerst vorsichtig. Eine halb aufgerissene Plastiktüte entläßt langsam ihren Inhalt. Ein Eierkarton verhindert den vollständigen Aderlaß.

© OScAR 2009.