Die Idee, diese alte, historische Strasse mit dem Fahrrad zu bewältigen, entstand spontan während einer Abteilungsfeier. Die Planung der Tour jedoch gestaltete sich ziemlich aufwändig: Die verfügbaren Angaben zum Streckenverlauf stammten entweder aus der Nachkriegszeit und hatten inzwischen nur noch historischen Charakter; oder sie waren hauptsächlich auf das Befahren der Strecke mit dem Auto ausgelegt. Durch private Kontakte konnten wir auch die Tagebuchaufzeichnungen einer Amerikanerin, die diese Strecke 1938 bereiste, in unsere Planung einfliessen lassen.
Die Problematik der Streckenplanung läßt sich mit einem kleinen, historischen Kurs erläutern: Vor 200 Jahren quälten sich die Wagentrecks von Ost nach West durch das Land - und bildeten so die Vorläufer für die spätere Eisenbahnlinie. 1927 wurde schließlich das National Highway System ins Leben gerufen - dennoch blieb die Fernstrasse ein Engpaß und mußte durch moderne Strassen nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs ersetzt werden. Mit dem Aufbau des National Interstate Highway Systems in den Jahren 1957 bis 1984 kam auch das Ende der legendären Route 66: Vier- und sechsspurige Autobahnen bedecken heute Teilstrecken der alten „Hauptstrasse Amerikas“, der „Mother Road“, wie man sie auch nannte. 1987 wurden schließlich die offiziellen Strassenschilder entfernt.
Für unser Vorhaben, die historische Route zu absolvieren, ist also eine solide Grundausbildung als Pfadfinder notwendig, bevor wir uns auf den Weg machen können. Über die Rocky Mountains soll unsere Tour durch die „Große Schüssel“ (Great Basin) mit ihren Trockentälern und der Mojave-Wüste führen und nach Überqueren der südlichen Sierra Nevada in den Pacific Mountains an der Pazifik-Küste in Los Angeles enden. Dabei gilt es, drei Zeitzonen von Ost nach West sowie den Mittleren Westen und die heisseste und trockenste Ecke der USA zu durchqueren. Da - praktischerweise - die Grundrichtung nach Westen vorgegeben ist, können wir uns hauptsächlich an den Eisenbahnlinien oder Autobahnen, die ihren Beitrag zum Tod der historischen Route 66 leisteten, orientieren.
Dennoch müssen wir schnell feststellen, daß die traditionelle Fahrtrichtung von Ost nach West an manchen Tagen gegen die vorherrschende Wetter- und Windrichtung durchgestanden werden muß. Was auf dem texanischen Hochplateu als extrem hinderlich empfunden wird, kann später - in der kalifornischen Mojave-Wüste bei Temperaturen von 47°C - aber auch eine willkommene Erfrischung sein.
Weiter im Westen folgen wir der alten Streckenführung, deren Verlauf schon deshalb leicht zu finden ist, weil es in diesem Abschnitt weit und breit keine andere Strasse gibt. In größeren Orten folgen wir den Hinweisschildern. Doch auch hier irren wir manchmal umher, weil sich wieder einmal zwei oder gar drei Streckenführungen aus den 20er und 30er Jahren mit denen neueren Datums kreuzen. Auf dem Land helfen wir uns dadurch, daß der Fahrer des Begleitfahrzeugs die Strecke auskundschaftet und sich dann sichtbar an den Abzweigungen postiert.
Die Strassenköter haben wir nur in Illinois und im östlichen Teil von Missouri auf uns aufmerksam gemacht: Dort, wo die Häuser noch nahe der Strasse liegen und die Vorgärten der Nachbarn zaunlos ineinander übergehen, dösen sie träge in der Sonne - um sich fast lautlos an unsere Felgen zu heften, sobald wir an ihnen vorbei geradelt sind. Wir suchen unser Heil jedesmal in einem rasanten Spurt - bei dem den untrainierten Tieren irgendwann die Puste ausgeht. Die Suche nach einer „Anti-Köter-Waffe“ endet schließlich im Erwerb von drei Pfeffer-Spraydosen, die jedoch nie zum Einsatz kommen werden. (Später, in Arizona, können wir uns schließlich doch noch von der Wirkungsweise und der Durchschlagskraft überzeugen, als sich ein Teamkollege im vollbesetzten Auto auf seine immer noch gut gefüllte Spraydose setzt...) Je weiter wir nach Westen kommen, desto spärlicher werden Farmen und Häuser - und damit auch die Hunde.
Dafür hält Missouri noch eine Invasion von Schnappschildkröten auf den Strassen für uns bereit, die sich blitzschnell in ihre Panzer verziehen und die Landungsklappe schliessen, wenn wir herangeflitzt kommen. Umso häufiger werden dann die Begegnungen mit Schlangen, die auf dem warmen Asphalt zusammengerollt auf uns warten.
Aber nicht nur unsere tierischen Begegnungen haben es in sich - schließlich hält die Route 66 zahlreiche Ikonen bereit, die wir zuvor in Büchern oder Dokumentarfilmen gesehen hatten: Lucille Hammons betreibt mir ihren 82 Jahren immer noch ihre Tankstelle in der Nähe von Hydro in Oklahoma. Angelo Delgadillo, Gründer der Route 66 Association, besuchen wir in seinem mehrfach dokumentierten Frisörladen in Seligman in Arizona. Danach treffen wir das liebenswerte Unikum Bob Waldmire, der sich für die Umwelt und „seine“ Route 66 einsetzt: Der Eremit lebt und arbeitet in einer der unwirtlichsten Gegenden von Arizona. Seinem einzigen Haustier - einer echten Klapperschlange - hat er am Vorabend unseres Besuchs die Freiheit geschenkt. Eine 80jährige Dame, die zu Fuß auf dem Weg von Los Angeles nach Chicago unterwegs ist und sich dabei von ihrem Hund einen Einkaufswagen ziehen läßt, haben wir leider um einen Tag verpaßt.
Natürlich lassen wir es uns nicht nehmen, bei der Quartiersuche nach Relikten der alten Zeit Ausschau zu halten. So steigen wir zum Beispiel im legendären Waggon Wheel Motel in Cuba/Missouri, im Forest Manor Hotel in Lebanon/Missouri sowie im Route 66 Motel in Seligman/Arizona ab.
Drei Wochen auf dem Fahrrad haben uns eine sehr direkte Beziehung zu dem Land und seinen Menschen aufbauen lassen. Jeder von uns hat seine Eindrücke auf unterschiedliche Weise verarbeitet und gespeichert. Das an einigen Stellen brüchige Asphaltband von Ost nach West hat uns einen unvergeßlichen und interessanten Querschnitt des Westens der USA gezeigt.
© OScAR 1995. Verkürzte Ausgabe.