Montag, 21. Juni 2010

Strampeln auf der Route 66


Die Idee, diese alte, historische Strasse mit dem Fahrrad zu bewältigen, entstand spontan während einer Abteilungsfeier. Die Planung der Tour jedoch gestaltete sich ziemlich aufwändig: Die verfügbaren Angaben zum Streckenverlauf stammten entweder aus der Nachkriegszeit und hatten inzwischen nur noch historischen Charakter; oder sie waren hauptsächlich auf das Befahren der Strecke mit dem Auto ausgelegt. Durch private Kontakte konnten wir auch die Tagebuchaufzeichnungen einer Amerikanerin, die diese Strecke 1938 bereiste, in unsere Planung einfliessen lassen.

Die Problematik der Streckenplanung läßt sich mit einem kleinen, historischen Kurs erläutern: Vor 200 Jahren quälten sich die Wagentrecks von Ost nach West durch das Land - und bildeten so die Vorläufer für die spätere Eisenbahnlinie. 1927 wurde schließlich das National Highway System ins Leben gerufen - dennoch blieb die Fernstrasse ein Engpaß und mußte durch moderne Strassen nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs ersetzt werden. Mit dem Aufbau des National Interstate Highway Systems in den Jahren 1957 bis 1984 kam auch das Ende der legendären Route 66: Vier- und sechsspurige Autobahnen bedecken heute Teilstrecken der alten „Hauptstrasse Amerikas“, der „Mother Road“, wie man sie auch nannte. 1987 wurden schließlich die offiziellen Strassenschilder entfernt.

Für unser Vorhaben, die historische Route zu absolvieren, ist also eine solide Grundausbildung als Pfadfinder notwendig, bevor wir uns auf den Weg machen können. Über die Rocky Mountains soll unsere Tour durch die „Große Schüssel“ (Great Basin) mit ihren Trockentälern und der Mojave-Wüste führen und nach Überqueren der südlichen Sierra Nevada in den Pacific Mountains an der Pazifik-Küste in Los Angeles enden. Dabei gilt es, drei Zeitzonen von Ost nach West sowie den Mittleren Westen und die heisseste und trockenste Ecke der USA zu durchqueren. Da - praktischerweise - die Grundrichtung nach Westen vorgegeben ist, können wir uns hauptsächlich an den Eisenbahnlinien oder Autobahnen, die ihren Beitrag zum Tod der historischen Route 66 leisteten, orientieren.

Dennoch müssen wir schnell feststellen, daß die traditionelle Fahrtrichtung von Ost nach West an manchen Tagen gegen die vorherrschende Wetter- und Windrichtung durchgestanden werden muß. Was auf dem texanischen Hochplateu als extrem hinderlich empfunden wird, kann später - in der kalifornischen Mojave-Wüste bei Temperaturen von 47°C - aber auch eine willkommene Erfrischung sein.

Weiter im Westen folgen wir der alten Streckenführung, deren Verlauf schon deshalb leicht zu finden ist, weil es in diesem Abschnitt weit und breit keine andere Strasse gibt. In größeren Orten folgen wir den Hinweisschildern. Doch auch hier irren wir manchmal umher, weil sich wieder einmal zwei oder gar drei Streckenführungen aus den 20er und 30er Jahren mit denen neueren Datums kreuzen. Auf dem Land helfen wir uns dadurch, daß der Fahrer des Begleitfahrzeugs die Strecke auskundschaftet und sich dann sichtbar an den Abzweigungen postiert.

Die Strassenköter haben wir nur in Illinois und im östlichen Teil von Missouri auf uns aufmerksam gemacht: Dort, wo die Häuser noch nahe der Strasse liegen und die Vorgärten der Nachbarn zaunlos ineinander übergehen, dösen sie träge in der Sonne - um sich fast lautlos an unsere Felgen zu heften, sobald wir an ihnen vorbei geradelt sind. Wir suchen unser Heil jedesmal in einem rasanten Spurt - bei dem den untrainierten Tieren irgendwann die Puste ausgeht. Die Suche nach einer „Anti-Köter-Waffe“ endet schließlich im Erwerb von drei Pfeffer-Spraydosen, die jedoch nie zum Einsatz kommen werden. (Später, in Arizona, können wir uns schließlich doch noch von der Wirkungsweise und der Durchschlagskraft überzeugen, als sich ein Teamkollege im vollbesetzten Auto auf seine immer noch gut gefüllte Spraydose setzt...) Je weiter wir nach Westen kommen, desto spärlicher werden Farmen und Häuser - und damit auch die Hunde.

Dafür hält Missouri noch eine Invasion von Schnappschildkröten auf den Strassen für uns bereit, die sich blitzschnell in ihre Panzer verziehen und die Landungsklappe schliessen, wenn wir herangeflitzt kommen. Umso häufiger werden dann die Begegnungen mit Schlangen, die auf dem warmen Asphalt zusammengerollt auf uns warten.

Aber nicht nur unsere tierischen Begegnungen haben es in sich - schließlich hält die Route 66 zahlreiche Ikonen bereit, die wir zuvor in Büchern oder Dokumentarfilmen gesehen hatten: Lucille Hammons betreibt mir ihren 82 Jahren immer noch ihre Tankstelle in der Nähe von Hydro in Oklahoma. Angelo Delgadillo, Gründer der Route 66 Association, besuchen wir in seinem mehrfach dokumentierten Frisörladen in Seligman in Arizona. Danach treffen wir das liebenswerte Unikum Bob Waldmire, der sich für die Umwelt und „seine“ Route 66 einsetzt: Der Eremit lebt und arbeitet in einer der unwirtlichsten Gegenden von Arizona. Seinem einzigen Haustier - einer echten Klapperschlange - hat er am Vorabend unseres Besuchs die Freiheit geschenkt. Eine 80jährige Dame, die zu Fuß auf dem Weg von Los Angeles nach Chicago unterwegs ist und sich dabei von ihrem Hund einen Einkaufswagen ziehen läßt, haben wir leider um einen Tag verpaßt.

Natürlich lassen wir es uns nicht nehmen, bei der Quartiersuche nach Relikten der alten Zeit Ausschau zu halten. So steigen wir zum Beispiel im legendären Waggon Wheel Motel in Cuba/Missouri, im Forest Manor Hotel in Lebanon/Missouri sowie im Route 66 Motel in Seligman/Arizona ab.

Drei Wochen auf dem Fahrrad haben uns eine sehr direkte Beziehung zu dem Land und seinen Menschen aufbauen lassen. Jeder von uns hat seine Eindrücke auf unterschiedliche Weise verarbeitet und gespeichert. Das an einigen Stellen brüchige Asphaltband von Ost nach West hat uns einen unvergeßlichen und interessanten Querschnitt des Westens der USA gezeigt.

© OScAR 1995. Verkürzte Ausgabe.

Donnerstag, 17. Juni 2010

Telefonterror

Diese technische Errungenschaft ist so lange segensreich, bis sie früher oder später zum reinen Terror mutiert. Und das ist heute geschehen.

Jeder, ob Gross oder Klein, ob Jung oder Alt, scheint mindestens zwei dieser High-Tech Werkzeuge ständig am Mann oder an der Frau zu tragen. Und getragen werden diese nicht in Taschen oder Jacken, nein, immer in der Hand. Weshalb viele davon hin und wieder fallen, zerspringen oder sogar in der Toilette ersaufen.

Störend für mich ist weniger das Klingeln oder diese höchst seltsamen Töne oder Melodien, sondern nur die Lautstärke, in der diese Winzlinge immer wieder angeschrien werden. Was haben diese armen Geräte nur Böses angestellt? Wahrscheinlich sind sie vor ein paar Tagen aus der Hand gesprungen, gefallen, und man ist noch immer erzürnt darüber und bestraft sie auf diese brutale Weise.

Ausserdem kann ich mich des Eindrucks nicht erwehren, dass in meiner Gegenwart die Leute um mich herum immer nur solche Leute anrufen, die hochgradig schwerhörig sein müssen. Oder selbst über kein derartiges Gerät verfügen. Oder beides. Oder sehr weit entfernt weilen.

Da bin ich dem Strassenlärm endlich entkommen und will bei einem Milchkaffee unter einem einladenden Sonnenschirm und bei Vogelgezwitscher etwas relaxen. Ein gesetzter Herr kommt irgendwann hinzu und macht sich am Nachbartisch breit. Er ist ruhig und zurückhaltend, bis er seine Bestellung aufgegeben hat. Durch einen wohl hörbaren Zuruf quer über den Platz direkt in die Cafeteria hinein. Oha! Einer von der lauten Sorte! Er wird doch nicht etwa Gebrauch machen wollen von seinen drei Handys, die ordentlich aufgereiht vor ihm auf dem Tisch liegen? Er wird.

Und was dann der Herr am Nachbartisch in den nächsten zehn Minuten diesem für mich nicht sichtbaren Schwerhörigen, der mindestens zwei Strassen weiter irgendwo hilflos herumstehen muß, tatsächlich wortgewaltig zu empfehlen scheint, bleibt für mich verschlossen. Zehn Minuten lang. Laut und vernehmlich. Ohne Rücksicht auf die Vögel und auf mich. Das Ende seiner Kommunikation ist eine wahre Erlösung. Erst dann wagt die Bedienung, ihm den Kaffee zu servieren.

Er denkt nach und nimmt ein Schlückchen von seinem Kaffee. Damit muß er wohl seine strapazierte Stimme geölt haben, denn er greift zielstrebig zu Handy Nummer 2, wählt eine lange Nummer --- Herrjeh, wieder ein lautes Ferngespräch? Und der ferne Angerufene gibt das Startzeichen für eine Wiederholung des vorherigen Anrufs. Ich bin sicher, der Herr am Nachbartisch betreibt eine Telefonkette, und jetzt muß die wichtige Nachricht erneut verkündet werden. Jedem Einzelnen, in der Strasse, auf dem Platz und vor allem mir, obwohl ich sie doch schon kenne und mein Trommelfell noch immer vibriert.

Mit Entsetzen sehe ich den Herrn am Nachbartisch schon mit Handy Nummer 3 spielen.

Da platzt mir der Kragen und in mir reift der verwegene Plan, diesen Herrn am Nachbartisch brutal mund-tot zu machen. Oder besser gesagt, handy-tot. Nein, nein, ich entreisse ihm nicht sein Eigentum. Nein, nein, ich zerstampfe es nicht. Nein, nein, ich entführe es auch nicht. Nein, ich lege einen winzig kleinen Schalter um an einem unscheinbar aussehenden Kästchen und zähle bis 5.

Bei 6 tritt das Unerwartete ein. Nach ein paar sich wiederholenden Worten, an deren Ende sicherlich ein Fragezeichen steht, schauen die Vögel irritiert zum Nachbartisch. Dort schaut man ebenso irritiert auf die technische Errungenschaft Nummer 2, gibt ihr einen Klaps auf den Po, wirft einen Blick nach oben, und als von dort weder Hilfe noch Signale kommen, und alle anderen Handys auf seinem Tisch ebenfalls den Empfang eingestellt zu haben scheinen, ist endlich Ruhe eingekehrt. Für die Vögel und für mich.

© OScAR 2010.

Dienstag, 15. Juni 2010

Feueralarm


Im Ernstfall ist es dann nicht mehr so lustig und gesellig, fürchte ich. Denn irgendwo in dem Einkaufs-Center muß es einen Alarm gegeben haben. Zwar sehe ich den einen oder anderen Angestellten mit farbiger Warnweste herumlaufen, aber weder die Käufer noch die Verkäufer scheint das zu irritieren. Das Leben im Center pulsiert ungebrochen weiter.

Mehrere Polizeifahrzeuge und ein Krankenwagen kommen lautstark herbeigeeilt und blockieren an der Vorderseite des Gebäudes den Haupteingang, der ja gerade in diesem Moment der Hauptausgang für die Flüchtenden sein sollte. Also strömen und zwängen sich die nunmehr alarmierten Menschen dort hindurch, während der Verkehr über die 10-spurige Straße ungestört dahinfließt. Nun ja, gestört fühlen sich die Autofahrer schon ein wenig von den sich ausbreitenden Menschenmassen.

Die Strasse, die hinter dem Gebäude entlang führt, wurde gerade auf eine einspurige Einbahnstrasse umgestellt und beidseitig von Metallpflöcken und Betonkübeln flankiert. Ein Halten, Parken oder ein Sich-Auflösen ist da nicht mehr möglich. Sofort nach Alarm rast ein Feuerwehrwagen mit großer Leiter auf dieser schmalen Einbahnstrasse heran, stoppt vor dem Center und wartet auf den Rest der Truppe, der sich ebenfalls hörbar von irgendwoher nähert. Voller Neugier oder auch nur total ahnungslos oder überaus schlau sind dem Feuerwehrwagen unbeteiligte Autos gefolgt und bilden jetzt mit dem Feuerwehrleiterwagen an der Spitze eine stehende Prozession.

Weil die restlichen Feuerwehrautos einfach nicht näher kommen können, eilen nach einiger Zeit und nach reiflichem Überlegen vom Ende der Schlange her schwerbepackte Feuerwehrmänner zum Einsatzort, mussten sie doch ihre Einsatzfahrzeuge im Stau zurücklassen. Ganz am Ende reiht sich ebenso lautstark ein Rettungswagen ein, der sich jedoch etwas weit entfernt vom Ort des Geschehens wiederfindet.

Und dann ist es plötzlich doch ernst geworden. Evakuierung. Undeutliche Lautsprecherdurchsagen fordern wohl dazu auf. Weder die vielen Touristen noch ich erkennen den Ernst der Lage. Wir folgen den Einheimischen. Deshalb strömen die evakuierten Menschen aus dem Gebäude auf die befahrene Strasse und schaffen es auch ohne polizeiliche Unterstützung, endlich den gefährlich fliessenden Verkehr dort zum Erliegen zu bringen. Derweilen stehen die Polizisten in Grüppchen plaudernd und rauchend zusammen.

Vorschriftsmäßig bei Grün überquert eine Gruppe Kleinkinder in Begleitung von Erwachsenen die Strasse, stemmen sich tapfer gegen den herauseilenden Menschenstrom, und wird von niemandem am Betreten des Centers gehindert; etwas später versuchen die erwachsenen Begleiter dann doch noch, die Kinder heil um das Gebäude herum zu führen. Die Kinovorstellung wird heute wohl ausfallen.

Nun haben sich die Angestellten der Geschäfte in Gruppen und in farbigen Warnwesten um das Center herum versammelt. Das ist doch eine günstige und gesellige Gelegenheit, ein paar Gruppenfotos zu schiessen. Also dirigieren ein paar Herren ohne Warnwesten die großen und kleinen Ansammlungen zu einem fotogenen Platz, wo man sich jauchzend und strahlend und rauchend den digitalen Objektiven präsentiert. Nicht vergessen, damals, beim Feueralarm.

© OScAR 2010.