Samstag, 11. Dezember 2010

Treibjagd


Ein Schuß zerreißt die Stille meiner herbstlichen Aufräumarbeit auf meiner Streuobstwiese. Ein Schuß, so nah? Ich schaue auf und sehe viele Personen um mich herum in einiger Entfernung, sie haben einen großen Kreis gebildet und ich bin in deren Mitte. Alle tragen rote Warnwesten, als hätte jeder ein Problem mit seinem Fahrzeug. Oder irgendeinen anderen Defekt.

Die meisten sind sogar bewaffnet. Die einen tragen richtige Flinten, die anderen sind mit bestens ausgebildeten Hunden ausgerüstet. Und alle scheinen nur das Ziel zu haben, mich zu umstellen. Denn diese jägerliche Infanterie marschiert stetig aus allen Richtungen auf mich zu. Sie scheren sich nicht um meine Bedenken, mitten drin in einer Treibjagd zu sein, habe ich doch keine dieser Warnwesten an; sie scheren sich auch nicht darum, wildfremde Grundstücke zu zertrampeln, sie sind nur auf Wild aus.

Das klagende Heulen eines waidwund geschossenen Elchs in Alaska stellt sich hier als Blasversuch auf einem Jagdhorn heraus. Die Jagd, also das Totschießen, ist eröffnet. Wilde Schüsse und Ballerei um mich herum lassen mich den Kopf einziehen, hört man doch hin und wieder von erlegten Treibern, Kühen und sogar Jägerkameraden. Ein ebenso wildes Geschrei animiert die Hunde, die alle ein rotes Schlabberlätzchen tragen, sich wie ein normaler Sonntagsausgehhund ohne Leine in freier Natur zu verhalten. Man hat ihnen ja das jagdlich korrekte Verhalten antrainiert, aber einmal von der Leine verhalten sie sich genau wie jeder andere Hund, dessen Ohren auf Durchzug stehen und die alles vor sich jagen, selbst den Kollegen nebenan. Irgendwelche kontrollierenden Kommandos oder sogar Pfiffe verhallen ungehört.

Würde mein reinrassiger Jagdhund sich so verhalten, würde er ziemlich schnell von einem dieser grünen Herren oder auch Damen mit aller zur Verfügung stehenden Härte bestraft. Bumm. An einem Sonntag Morgen in der gleichen Flur.

Doch hier haben diese Spitzenkläffer tatsächlich einen einsamen Hasen aufgestöbert, dem sie jetzt blindlings hinterherjagen, angespornt durch laute Kommandos und noch lautere Pfiffe. Ist das jetzt noch eine Treibjagd, oder ist es gerade eine Hetzjagd geworden? Der Hase jagt an mir vorbei und erlaubt sich doch allen Ernstes, zurück auf Treiber und Jäger zu rennen. Was für ein Hohn! Schüsse fallen da nicht mehr, schließlich stehen sich die Warnwestenträger gegenseitig im Weg. Und dann ist der Hase verschwunden. Und die Hunde jammern. Und dann schreit wieder der Elch, aber eine andere Melodie.

Da kommt der Hase ja wieder zum Vorschein, man sieht ihn ganz genau, aber die Hunde haben keine Lust mehr und sind eingeschnappt. Wieder an der Leine. Und die roten Westen wollen wieder mein Grundstück zertrampeln.

Der Obertrampler aber muß demonstrieren, daß er sich seinen Weg bahnt, wo immer er will. Mit geladener Flinte und zähnefletschendem Hund schiebt er sich an mir vorbei über mein Grundstück. Meiner Bitte, wie jeder andere willkommene Spaziergänger den Feldweg zu benutzen, kommt er natürlich nicht nach.

Waidmanns-Dank.

© OScAR 2010.

Zeitgenossen: Der Erklärer


Die vielen Menschen sind über die breite Straße geflutet, während die Fußgängerampel schon lange rot zeigt. Manche Autofahrer warten ab, bis die Fußgänger das rettende Ufer erreicht haben, andere - meistens Taxifahrer - bahnen sich mit der Hupe einen Weg. Ein buntes Durcheinander also.

Neben mir bleibt eine Familie stehen. Der Vater raucht und telefoniert. Die Mutter beugt sich zu dem kleinen Jungen hinunter, deutet immer wieder auf die roten Männchen in den Ampeln und erklärt sicherlich deren Sinn und Zweck. Der kleine Junge schaut interessiert mit großen Augen.

Na also, es gibt unter den jüngeren Portugiesen also doch Vorbilder, die schon frühzeitig ihren Kindern ein gutes Vorbild sein wollen. Während ich mir das so denke, umrunden ältere Portugiesen uns Wartende und rennen über die Straße. Die Mutter erklärt dem Kleinen gerade wieder ein Geheimnis, bin ich mir sicher.

Da ist des Vaters Telefongespräch zu Ende, er raunzt seine Ehefrau an, diese schnappt sich den Bengel und trotz roter Ampel zerren die Eltern den Bengel über die Straße. Die roten Männchen sind ganz irritiert, so wie ich. Und der Kleine winkt den roten Männchen.

© OScAR 2010.

Zeitgenossen: Der Elefant

Ohne Socken und in Turnschuhen sitzt er am kleinen Tisch im zugigen Teil der Halle; die typische Baskenmütze wärmt sein Haupt. Trotzdem scheint er Zug abbekommen zu haben, denn in regelmäßigen aber kurzen Abständen greift er in die Hosentasche und zieht ein kleines Taschentuch hervor. Dieses faltet er sorgfältig auseinander, bis es die Größe eines Badehandtuchs erreicht hat, hält es sich vor die Nase und beginnt mit kleinen, vorsichtigen Geräuschen. Fast hören sich diese schüchtern an. Wahrscheinlich stimmt er sein Instrument.

Dann aber beginnt das voluminöse Konzert. Und er ist der Solist. Mit seinen Trompetenstößen läßt er Wände und Halle erzittern und den Sicherheitsdienst herbeieilen.

Der Vorhang fällt und damit auch sein Taschentuch. Schmunzelnd schaut er sich in der Runde um, während er sehr sorgfältig sein Taschentuch faltet und in seiner Hosentasche versenkt. Dort bleibt es bis zum nächsten und baldigen Auftritt.

© OScAR 2010.

Die Einreise

Abflug 16:40 von FRA. Sitz 15A. Und wieder keine dieser gutaussehenden und gesprächswilligen Damen als Nachbarin. Auf allen meinen Flügen wurde ich bisher enttäuscht. Das passiert offenbar nur meinem zweitbesten Freund. Oder im Film.

Erst hockt er auf meinem Platz, weil er Gang mit Fenster verwechselt hat. Dann beugt er sich pausenlos über mich hinweg und blickt immer wieder auf den Flügel. Draußen. Dieser ist noch nicht abgefallen. Etwas Interessanteres gibt es nur im Cockpit.

Sehr gesprächig ist er nicht. Hmmm. Irgendwann bestellt er ein Bier. Wie kann die Flugbegleiterin ihn nur verstanden haben, denn sein Englisch ist nicht von dieser Welt. Kein Portugiese. Aber so ähnlich. Pole.

Die Stunden vergehen.

Beim Ausfüllen der Zoll- und Einreisekarten benötigt er die Hilfe der Stewardess. Ich sehe ihn schon bildlich in den Klauen der gnadenlosen Einreisebehörde und habe fast Mitleid mit ihm. Tja, wäre er jung, weiblich und dazu pretty...

JFK! Meine Schuhspitze berührt ganz leicht die gelbe Linie auf dem geheiligten Boden. Untrügliches Zeichen für einen weltgewandten Vielflieger und USA-Einreisenden. Dieser Typ dagegen steht doch mit beiden Füssen auf der gelben Markierung! Sieht das denn keiner?

Stoisch lockt der Immigration Officer die Wahrheit aus ihm: "What brings you to the United States?" Und die Antwort: "I want to polish my English."

Na ja, ich hätte an seiner Stelle ja noch ein Sir hinzugefügt. Und offensichtlich wartet der Officer auf dieses Wörtchen, denn sein Blick in die Einreisedokumente des Herrn aus Polen ist zeitlich endlos.

Nach einer halben Ewigkeit hebt der Officer sein Haupt, blickt den Stummen ernst an und attestiert unbarmherzig: "Your English is Polish enough!"

© OScAR 2008.

Kreditwürdig


Das ist mir jetzt nicht nur einmal, sondern gleich zweimal im Urlaub in bzw. um Carvoheiro widerfahren: Ein schönes Lokal finden, sehr gut essen und dann vor dem Dilemma stehen, daß man dort nur Bargeld akzeptiert! Ich und Bargeld? Teller waschen? Zum nächsten MB-Automaten flitzen?

"Kommen Sie morgen oder übermorgen wieder oder vorbei und zahlen Sie dann..." Ich traue meinen Ohren nicht. Doch man meint es genau so. Also gehen wir dann ein paar Tage später wieder dorthin, mit reichlich Bargeld in der Tasche, lächeln freundlich zurück und barzahlen unsere Schulden.

Das eine Restaurant ist österreichisch geführt und hat eine tolle (scharfe) Gulaschsuppe und einen Hirschbraten...! Der Nachtisch ist die Krönung!

Das andere Restaurant ist leicht indisch angelehnt und bietet dezente Piano-Musik im Garten.

© OScAR 2010.

Samstag, 20. November 2010

Wegelagerer

Von Ampel zu Ampel hüpfe ich durch die Stadt. Start/Stop nennt man das unter IT-Profis, wenn die „Grüne Welle“ ein Fremdwort zu sein scheint. Dafür scheint die Sonne und mein Auto strahlt in frischem Glanze.

Plötzlich springt mir eine Gestalt vor den Wagen und weist mich auf einen Mangel hin. Die Autowaschanlage habe ein sehr wichtiges Teil ausgelassen. Die Frontscheibe nämlich. Schon wieder die Frontscheibe. Ich erhole mich gerade von diesem Schreck, daß die Frontscheibe vernachlässigt wurde, da schmiert dieser aufmerksame und um meine Frontscheibe besorgte Zeitgenosse schon auf dieser ungefragt herum. Und weil der nachfolgende Verkehr wegen der grünen Ampel schon unruhig mit den Hufen scharrt, versuche ich der Gestalt durch Handzeichen zu danken und loszufahren. Was signalisiert dieser? Geld will er haben? Für die Schmiererei auf meiner Scheibe? Da erinnere ich mich glücklicherweise an den Trick meiner amerikanischen Autofahrerkollegen: Losfahren. Und ich fahre los.

Weil die nächste Ampel schon wieder rotes Licht zeigt, verlangsame ich meine Flucht vor dem Frontscheibenverschmierer und werfe mich dafür dem nächsten Hindernis geradezu in die Arme. Ein junger Mann in farblosen Klamotten hat das rechte Hosenbein hochgekrempelt und zeigt darunter eine gar schreckliche Verstümmelung des Unterschenkels. Die beiden Krücken runden das schauerliche Bild noch ab. Was will er? Geld will er haben? Ob der amerikanische Trick auch hier helfen wird? Er hilft.

Der nächste Ampelhalt ist ausgesprochen langweilig.

Sehr schön! Schon von weitem entdecke ich eine Gestalt, die an der nächsten Kreuzung herumspringt. Also gebe ich mein Bestes, um dieses Schauspiel in erster Reihe verfolgen zu können. Was wird es diesmal sein? Ob ich eine Zeitung mit dicken Schlagzeilen haben möchte? Ich lehne dankend ab, denn da sind mir einfach zu wenig Bilder abgedruckt. Und den Text kann ich sowieso nicht lesen. Und damit rolle ich wieder an.

Aufgepaßt! Dort vorne irrt ein Mädchen auf der Straße herum! Zum Glück zeigt auch diese Ampel rot und ich muß anhalten. Was ist mit dem Kind? Hat es sich etwa verletzt? Denn es kommt auf mich zu und hält mir einen Streifen Heftpflaster entgegen. Nein, nein, nein. Ich habe einen Erste-Hilfe-Kasten an Bord und benötige kein Heftpflaster. Nein, einen Euro habe ich leider nicht and Bord. Das Mädchen schaut mich böse an und schleicht zu einem anderen Fahrzeug. Und ich schleiche zur nächsten Kreuzung.

Dort muß es einen Unfall gegeben haben, denn die Feuerwehr rennt von Fahrzeug zu Fahrzeug. Was ist passiert, frage ich einen der Freiwilligen. Nein, nein, nichts ist passiert, aber sie benötigen für die nächste Grillparty etwas Kleingeld. Das ist mir aber jetzt peinlich, habe ich doch nur große Scheine bei mir. Ich gebe dafür etwas Gummi und bin dadurch recht flott an der nächsten roten Ampel.

Wahrscheinlich war es doch etwas zu viel Gummi. So jedenfalls erklärt es ein streng schauender Polizist und unterbricht meine kleine Erkundungsfahrt durch die Stadt für die nächste halbe Stunde. Am Ende begnügen wir uns beide mit meiner Kreditkarte.
© OScAR 2010.

Dienstag, 16. November 2010

Rossio, Lissabon

Der Rossio. Weltberühmter Sammelplatz aller Touristen in Lissabon. Umkreist von der endlosen Auto-Armada, knatternden Motorrädern, frechen Taxen und sperrigen Bussen. Auf Kopfsteinpflaster. Die Strassenbahn Nummer 29 würde die Gesamtkomposition sicherlich ergänzen. Aber diese rumpelt hier nicht.

Die Passanten beteiligen sich am geselligen Reigen und schreiten, bummeln und rennen ebenfalls auf der äußeren Kreisbahn. Andere haben ein Plätzchen vor den wenigen Cafes gefunden und beobachten - wie ich - die Kreisenden. Aber die Beobachter werden schon selbst beobachtet.

Denn da schlendert er heran, der ewige Sonnenbrillenverkäufer, und balanciert die obligatorischen zwei Sonnenbrillen zwischen den Fingern, und trägt die Umhängetasche zwecks jederzeit zu erwartetender Angebotserweiterung griffbereit. Ruhig, zielsicher aber bestimmt legt er eine der Sonnenbrillen einem Touristen - also mir - auf den kleinen Tisch. Obwohl meine Sonnenbrille ja nicht gerade übersehen werden kann. Mache ich Überraschter den Fehler und riskiere den kleinsten Blick auf das Angebotsobjekt, dann signalisiere ich damit, daß ich von einem Reigen an blitzenden Brillen bester Herkunft geradezu überschüttet werden möchte. Der anfänglich kommunizierte Preis für das Markengestell fällt recht schnell in den Keller oder auf das Pflaster, wenn ich oft genug Desinteresse zeige. Wie komme ich da nur wieder raus?

Eine gewisse Hilfestellung erwarte ich mir von dem portugiesischen Bettler, der seine fordernde Hand über den Tisch streckt und sichtbar das Brillensupersonderangebot stört. Die Brillen wandern glücklicherweise zum Nachbartisch und so wandert nach kurzem Zögern auch die bettelnde Hand. Und dann bin ich für ein paar Augenblicke mit mir alleine. Wenn sich da nicht der Lottoverkäufer heranpirschen und mir mit ein paar Lottoscheinen das finanzielle Glück versprechen würde.

Und was macht diese Gestalt dort? Unablässig schiebt sie sich mit immerzu gesenktem Haupt dicht an den Tischreihen vorbei. Der Blick ist nach unten gerichtet und tastet einem Radarsystem gleich die Ablaufrinne ab. Keine Münze scheint den Weg zwischen die kleinen Gitterstäbe bisher gefunden zu haben. Zwischen zwei Schlückchen Kaffee stelle ich mir selbst die Frage, wie man gefahr- und aufwandslos eine Münze dort herauszaubern kann. Man kann. Kaum ist die von mir achtlos weggerollte Münze von den Gitterstäben verschluckt, gleitet ein Stück gebogener Draht flink in die Unterwelt und erlöst das Geldstück von seinem abgeschiedenen Dasein.

Ich selbst blicke jetzt wieder auf und schon muß ich dem kleinen Zigeunermädchen erklären, daß ich mich weder verletzt habe, noch jemals verletzen und ich deshalb weder jetzt noch in Zukunft ein Heftpflasterstreifen benötigen werde. Also will ich auch kein Heftpflaster in diesem Moment von ihm kaufen. Und Streichhölzer benötige ich als Nichtraucher sowieso nicht. Mit unbewegten Gesichtszügen zieht es weiter zum nächsten Tisch.

Aber jetzt habe ich meine Ruhe gefunden. Wenn man vom Lärm um mich herum großzügig einmal absieht. Also konzentriere ich mich wieder auf das Chaos. Wie bitte? Ein altes Mütterchen hat sich schüchtern herangeschoben und deutet erklärend auf die Zuckertüte, die unbenutzt neben meiner Kaffeetasse liegt. Na klar. Und schon ist sie weggesteckt. Und gleich darauf deutet eine etwas sehr zerlumpte Gestalt nach meinem halben Brötchen. Und auch das wechselt ziemlich schnell den Besitzer.

Aber jetzt habe ich meine Ruhe hoffentlich gefunden. Nein, noch nicht ganz, denn eine jämmerlich wirkende Zigeunermutter mit einem Baby auf dem Arm deutet gestenreich an, daß sie und das Baby seit mehreren Tagen noch nichts gegessen hätten und bald sterben werden. Ihre Gesten und ihr Gesichtsausdruck ist so herzzerreißend, daß ich am liebsten ein belegtes Brötchen bestellen möchte. Nein, nein, sie nimmt nur Bargeld, soviel kann ich verstehen.

Was ist von meinem Brötchen übrig geblieben? Vielleicht ein Krümel. Und nachdem tatsächlich etwas Ruhe um mich herum eingekehrt ist und ich genüßlich in der Sonne meinen Gedanken nachhänge, werde ich doch wieder gestört. Ein vorwitziger Sperling ist auf meinem Tisch gelandet, beäugt mich intensiv, schnappt sich blitzschnell den Krümel und schwirrt beglückt davon. Ich trinke meinen letzten Schluck in der Zwischenzeit erkalteten Kaffee und zahle.

Da wälzt sich eine schwarz gekleidete, vollbusige Walküre auf mich zu und will mich von der Qualität einer durchsichtigen Bluse überzeugen. Diese trägt sie gesittet über dem Arm. Nein, nein, die sei doch viel zu üppig, wehre ich lachend ab. Sofort gestikuliert sie zu ihrem schwarz- und langhaarigen Boss, der Zigarette rauchend und telefonierend an der nächsten Ecke am falsch geparkten Benz lehnt. Dieser reißt sofort den Kofferraum auf und will die Dame mit Nachschub versorgen. Aber da bin ich schon grußlos zwischen zwei Bussen verschwunden.

© OScAR 2010.