Samstag, 20. November 2010

Wegelagerer

Von Ampel zu Ampel hüpfe ich durch die Stadt. Start/Stop nennt man das unter IT-Profis, wenn die „Grüne Welle“ ein Fremdwort zu sein scheint. Dafür scheint die Sonne und mein Auto strahlt in frischem Glanze.

Plötzlich springt mir eine Gestalt vor den Wagen und weist mich auf einen Mangel hin. Die Autowaschanlage habe ein sehr wichtiges Teil ausgelassen. Die Frontscheibe nämlich. Schon wieder die Frontscheibe. Ich erhole mich gerade von diesem Schreck, daß die Frontscheibe vernachlässigt wurde, da schmiert dieser aufmerksame und um meine Frontscheibe besorgte Zeitgenosse schon auf dieser ungefragt herum. Und weil der nachfolgende Verkehr wegen der grünen Ampel schon unruhig mit den Hufen scharrt, versuche ich der Gestalt durch Handzeichen zu danken und loszufahren. Was signalisiert dieser? Geld will er haben? Für die Schmiererei auf meiner Scheibe? Da erinnere ich mich glücklicherweise an den Trick meiner amerikanischen Autofahrerkollegen: Losfahren. Und ich fahre los.

Weil die nächste Ampel schon wieder rotes Licht zeigt, verlangsame ich meine Flucht vor dem Frontscheibenverschmierer und werfe mich dafür dem nächsten Hindernis geradezu in die Arme. Ein junger Mann in farblosen Klamotten hat das rechte Hosenbein hochgekrempelt und zeigt darunter eine gar schreckliche Verstümmelung des Unterschenkels. Die beiden Krücken runden das schauerliche Bild noch ab. Was will er? Geld will er haben? Ob der amerikanische Trick auch hier helfen wird? Er hilft.

Der nächste Ampelhalt ist ausgesprochen langweilig.

Sehr schön! Schon von weitem entdecke ich eine Gestalt, die an der nächsten Kreuzung herumspringt. Also gebe ich mein Bestes, um dieses Schauspiel in erster Reihe verfolgen zu können. Was wird es diesmal sein? Ob ich eine Zeitung mit dicken Schlagzeilen haben möchte? Ich lehne dankend ab, denn da sind mir einfach zu wenig Bilder abgedruckt. Und den Text kann ich sowieso nicht lesen. Und damit rolle ich wieder an.

Aufgepaßt! Dort vorne irrt ein Mädchen auf der Straße herum! Zum Glück zeigt auch diese Ampel rot und ich muß anhalten. Was ist mit dem Kind? Hat es sich etwa verletzt? Denn es kommt auf mich zu und hält mir einen Streifen Heftpflaster entgegen. Nein, nein, nein. Ich habe einen Erste-Hilfe-Kasten an Bord und benötige kein Heftpflaster. Nein, einen Euro habe ich leider nicht and Bord. Das Mädchen schaut mich böse an und schleicht zu einem anderen Fahrzeug. Und ich schleiche zur nächsten Kreuzung.

Dort muß es einen Unfall gegeben haben, denn die Feuerwehr rennt von Fahrzeug zu Fahrzeug. Was ist passiert, frage ich einen der Freiwilligen. Nein, nein, nichts ist passiert, aber sie benötigen für die nächste Grillparty etwas Kleingeld. Das ist mir aber jetzt peinlich, habe ich doch nur große Scheine bei mir. Ich gebe dafür etwas Gummi und bin dadurch recht flott an der nächsten roten Ampel.

Wahrscheinlich war es doch etwas zu viel Gummi. So jedenfalls erklärt es ein streng schauender Polizist und unterbricht meine kleine Erkundungsfahrt durch die Stadt für die nächste halbe Stunde. Am Ende begnügen wir uns beide mit meiner Kreditkarte.
© OScAR 2010.

Dienstag, 16. November 2010

Rossio, Lissabon

Der Rossio. Weltberühmter Sammelplatz aller Touristen in Lissabon. Umkreist von der endlosen Auto-Armada, knatternden Motorrädern, frechen Taxen und sperrigen Bussen. Auf Kopfsteinpflaster. Die Strassenbahn Nummer 29 würde die Gesamtkomposition sicherlich ergänzen. Aber diese rumpelt hier nicht.

Die Passanten beteiligen sich am geselligen Reigen und schreiten, bummeln und rennen ebenfalls auf der äußeren Kreisbahn. Andere haben ein Plätzchen vor den wenigen Cafes gefunden und beobachten - wie ich - die Kreisenden. Aber die Beobachter werden schon selbst beobachtet.

Denn da schlendert er heran, der ewige Sonnenbrillenverkäufer, und balanciert die obligatorischen zwei Sonnenbrillen zwischen den Fingern, und trägt die Umhängetasche zwecks jederzeit zu erwartetender Angebotserweiterung griffbereit. Ruhig, zielsicher aber bestimmt legt er eine der Sonnenbrillen einem Touristen - also mir - auf den kleinen Tisch. Obwohl meine Sonnenbrille ja nicht gerade übersehen werden kann. Mache ich Überraschter den Fehler und riskiere den kleinsten Blick auf das Angebotsobjekt, dann signalisiere ich damit, daß ich von einem Reigen an blitzenden Brillen bester Herkunft geradezu überschüttet werden möchte. Der anfänglich kommunizierte Preis für das Markengestell fällt recht schnell in den Keller oder auf das Pflaster, wenn ich oft genug Desinteresse zeige. Wie komme ich da nur wieder raus?

Eine gewisse Hilfestellung erwarte ich mir von dem portugiesischen Bettler, der seine fordernde Hand über den Tisch streckt und sichtbar das Brillensupersonderangebot stört. Die Brillen wandern glücklicherweise zum Nachbartisch und so wandert nach kurzem Zögern auch die bettelnde Hand. Und dann bin ich für ein paar Augenblicke mit mir alleine. Wenn sich da nicht der Lottoverkäufer heranpirschen und mir mit ein paar Lottoscheinen das finanzielle Glück versprechen würde.

Und was macht diese Gestalt dort? Unablässig schiebt sie sich mit immerzu gesenktem Haupt dicht an den Tischreihen vorbei. Der Blick ist nach unten gerichtet und tastet einem Radarsystem gleich die Ablaufrinne ab. Keine Münze scheint den Weg zwischen die kleinen Gitterstäbe bisher gefunden zu haben. Zwischen zwei Schlückchen Kaffee stelle ich mir selbst die Frage, wie man gefahr- und aufwandslos eine Münze dort herauszaubern kann. Man kann. Kaum ist die von mir achtlos weggerollte Münze von den Gitterstäben verschluckt, gleitet ein Stück gebogener Draht flink in die Unterwelt und erlöst das Geldstück von seinem abgeschiedenen Dasein.

Ich selbst blicke jetzt wieder auf und schon muß ich dem kleinen Zigeunermädchen erklären, daß ich mich weder verletzt habe, noch jemals verletzen und ich deshalb weder jetzt noch in Zukunft ein Heftpflasterstreifen benötigen werde. Also will ich auch kein Heftpflaster in diesem Moment von ihm kaufen. Und Streichhölzer benötige ich als Nichtraucher sowieso nicht. Mit unbewegten Gesichtszügen zieht es weiter zum nächsten Tisch.

Aber jetzt habe ich meine Ruhe gefunden. Wenn man vom Lärm um mich herum großzügig einmal absieht. Also konzentriere ich mich wieder auf das Chaos. Wie bitte? Ein altes Mütterchen hat sich schüchtern herangeschoben und deutet erklärend auf die Zuckertüte, die unbenutzt neben meiner Kaffeetasse liegt. Na klar. Und schon ist sie weggesteckt. Und gleich darauf deutet eine etwas sehr zerlumpte Gestalt nach meinem halben Brötchen. Und auch das wechselt ziemlich schnell den Besitzer.

Aber jetzt habe ich meine Ruhe hoffentlich gefunden. Nein, noch nicht ganz, denn eine jämmerlich wirkende Zigeunermutter mit einem Baby auf dem Arm deutet gestenreich an, daß sie und das Baby seit mehreren Tagen noch nichts gegessen hätten und bald sterben werden. Ihre Gesten und ihr Gesichtsausdruck ist so herzzerreißend, daß ich am liebsten ein belegtes Brötchen bestellen möchte. Nein, nein, sie nimmt nur Bargeld, soviel kann ich verstehen.

Was ist von meinem Brötchen übrig geblieben? Vielleicht ein Krümel. Und nachdem tatsächlich etwas Ruhe um mich herum eingekehrt ist und ich genüßlich in der Sonne meinen Gedanken nachhänge, werde ich doch wieder gestört. Ein vorwitziger Sperling ist auf meinem Tisch gelandet, beäugt mich intensiv, schnappt sich blitzschnell den Krümel und schwirrt beglückt davon. Ich trinke meinen letzten Schluck in der Zwischenzeit erkalteten Kaffee und zahle.

Da wälzt sich eine schwarz gekleidete, vollbusige Walküre auf mich zu und will mich von der Qualität einer durchsichtigen Bluse überzeugen. Diese trägt sie gesittet über dem Arm. Nein, nein, die sei doch viel zu üppig, wehre ich lachend ab. Sofort gestikuliert sie zu ihrem schwarz- und langhaarigen Boss, der Zigarette rauchend und telefonierend an der nächsten Ecke am falsch geparkten Benz lehnt. Dieser reißt sofort den Kofferraum auf und will die Dame mit Nachschub versorgen. Aber da bin ich schon grußlos zwischen zwei Bussen verschwunden.

© OScAR 2010.