Dienstag, 1. März 2016

Entlang der Rota Vicentina durch Portugal


Von Sagres durch die Algarve und den Alentejo nach Norden

Einsam ist es auf den meisten Teilstücken dieses Pilgerwegs, nur ein halbes Dutzend Wanderer oder Pilger treffe ich, und ein paar zusätzliche und frische Fußabdrücke kann ich im Staub des Wegs lesen, also bin ich nicht gänzlich alleine von Süd nach Nord auf dem Portugiesischen Pilgerweg, vom Cabo de São Vicente parallel zur portugiesischen Küstenlinie bis zum verschlafenen Städtchen Porto Covo unterwegs. Es ist früh im März und ich sollte vielleicht doch bis zum Beginn der eigentlichen Saison warten. Aber ich wandere los…

Sagres war geplant als Ausgangspunkt meiner Wanderung, doch dann beschloss ich, dort loszulaufen, wo der Pilgerweg nicht nur offiziell endet oder beginnt,  je nach eingeschlagener Richtung, sondern was ihm auch seinen Namen gegeben hat: Ich starte am Cabo de São Vicente, dem südwestlichste Punkt der portugiesischen Küstenlinie.

Ein Bus bringt mich und andere Touristen also zu den windzerzausten Felsen mit dem Leuchtturm darauf, den man in einer Entfernung von 40km noch erkennen soll, von dem wir hinunter auf die schäumenden und anrollenden Wellen schauen können. Der eine oder andere Besucher tastet mitunter hilfesuchend nach dem eine gewisse Sicherheit suggerierenden Geländer. Der frische und stetige Wind lässt so manche Nase ein Taschentuch anfordern, aber mit nur einer Hand, weil die andere den Kontakt zum Geländer hält, kann so manches Tuch nicht am Davonflattern gehindert werden.

Dass der bekannte Jakobsweg, so auch der Portugiesische, im spanischen Santiago de Compostela endet, hatte den Portugiesen wohl noch nie so richtig gefallen, deshalb entdeckten sie ihren eigenen Pilgerweg, der auch in einem Santiago, dem Santiago de Cacém endete. Oder dort begann. Seit 2012 ist dieser Pilgerweg ausgeschildert und für geübte Pilger und Wanderer durchgängig begehbar, sieht man einmal von einigen wirklich atemraubenden Engstellen ab, die direkt an Klippen und über schäumenden Wellen gemeistert werden müssen. Es sind ca. 350 km zu begehen, wenn man alle Etappen zusammen rechnen würde.

Die ersten Etappen führen mich durch die Algarve, die südlichste der sieben Regionen Portugals. Den beliebten Küstenabschnitten im Süden, die „Sand-Algarve“ genannt werden und von Sandstränden und Lagunen geprägt sind, folgt nach Westen hin die „Fels-Algarve“ mit ihren zerfurchten 20-50m hohen Steilküsten mit malerischen Formationen aus gelben und rötlich braunen Kalk- und Sandsteinfelsen, an denen unentwegt der Atlantik nagt. Im Landesinneren der Algarve gibt es nur sehr wenig Touristik.

Noch fehlt es entlang des Pilgerwegs ziemlich überall an der notwendigen Infrastruktur; hin und wieder endet eine Etappe ohne Hoffnung auf ein Hotelzimmer oder eine Schlafstätte. Auch muss es unterwegs ja nicht gleich eine Sitzbank sein, ein umgestürzter Baumstamm wäre schon recht praktisch; bis auf einen solchen und einem großen Steinblock suche ich vergebens. Auch fehlen mir die kleine Rastmöglichkeiten und die kleinen Läden und Cafés entlang der Strecke.

Ich kann wählen zwischen dem „Historischen Weg“, dem „Caminho Histórico“, und dem „Fischerpfad“, dem „Trilho dos Pescadores“. Viel Mühe hat man sich gemacht bei der Kennzeichnung der einzelnen Streckenabschnitte; durchgehend folge ich der Farbmarkierung in rot-weiß für den „Historischen Weg“, und einer dezenten grün-blau Markierung für den „Fischerpfad“ jeweils direkt an den Klippen entlang. Es gibt keinen durchgehenden Pilgerweg über die Klippen, sondern es gibt parallel zum „Historischen Weg“ einige Etappen und Abstecher auf die Klippen. Deshalb muss ich mich entscheiden, ob ich den „Historischen Weg“ mehr im Landesinneren gehe und auf Klippen und Kletterabschnitte verzichte, oder zwischendurch zu den Klippenabschnitten abbiege, dort diese Abschnitte durchwandere und wieder zum Hauptweg zurückkehre. Für mich wäre es sinnvoller, wenn man diese Klippenabschnitte miteinander verbinden und so einen parallel verlaufenden „Fischerpfad“ anbieten würde.

Der stetige Wind zu Beginn der Wanderung und auf den ebenen und strauch- und baumlosen Flächen verdirbt wohl den üblichen Insekten die Lust am Schwirren, lediglich ein paar kleinere Scharen von Vögeln steigen bei meiner Annäherung in die Höhe, flattern fast hilflos vor mir her und nach mehreren Schritten sind sie plötzlich verschwunden; dadurch haben sie mich von ihren Bodennestern weggelockt. Schon am Ende des  ersten Tags vermisse ich die Vögel und anderes Getier, und je weiter nördlich ich mich begebe, umso weniger kann ich Vögel, Insekten oder anderes Krabbeltier beobachten. Ein paar Ameisen vielleicht.

Die wenigen Steinmauern sind umgefallen oder von Gras und Büschen überwuchert. Viele eingefallenen Bauernhöfe geben der Gegend ein gespenstisches Bild. Keine Menschenseele lässt sich blicken, bis auf den alten Mann, der mich in Gummistiefeln ein Stück begleitet und mir Interessantes über seine „porco preto“ Schweine erzählt. Er versteht nicht, dass ich ihn nicht verstehe.

Zuerst ist der Weg wegen des steinigen Untergrunds angenehm zu laufen, doch dann werde ich unverständlicherweise mehrmals umdirigiert, so ich denn der Beschilderung folge, stoße dann irgendwann wieder auf den ursprünglichen Weg. Einmal erklimme ich einen völlig nackten Hügel, nachdem ich ein paar Serpentinen gefolgt bin, stehe auf der Hügelkuppe, sehe mit eigenen Augen im Tal den staubigen Weg, wandere auf der andere Seite den Hügel wieder hinunter in Richtung Bobadeira und treffe tatsächlich wieder auf die Beschilderung mitsamt dem Pilgerweg. Wäre ich meinem Gefühl, meinem Orientierungssinn, meinem GPS Gerät und nicht der Beschilderung gefolgt, wäre ich tatsächlich an einer Gebäudeansammlung mit einem Kleinstrestaurant vorbeigelaufen. Dabei stellt sich mir die Frage, ob dieser Umweg möglicherweise vom Besitzer des Restaurants gesponsert ist. Das wird nicht die einzige Umleitung in den nächsten Tagen bleiben und stellt sich in meinen Augen als recht geschickte Beeinflussung der Etappenführung dar.

Ein schmaler Weg schlängelt sich an einem Bach entlang und zwingt mich mehrmals zum Durchwaten des eiskalten Wassers. Glücklicherweise liegen an solchen Furten entsprechend hilfreiche Steine und verhindern, dass ich entweder Schuhe und Socken ausziehen oder die Wasserdichtheit meiner Schuhe testen muss.
Zu den wenigen Begegnungen mit anderen Wanderern zählt auch das rüstige Berliner Ehepaar, das ich an einem Tag gleich zweimal treffe. Und natürlich auch der Marketing Professor aus Heidelberg in einem winzigen aber exzellenten Restaurant bleibt mir in Erinnerung.

Während der Wind seine Kraft weiter verliert, bestrahlt die Sonne die Ebene, in der Anzahl und Höhe der Büsche stetig zugenommen hat. Ein herrlicher Duft liegt über der Ebene, was man ja generell über die Algarve berichten kann. Viel Abwechslung wird mir allerdings nicht geboten, bis ich den Bewässerungsgraben erreiche, dem ich nunmehr folgen werde. Fast vier Meter ist er breit und in seiner Mitte sicherlich zwei Meter tief. Glasklares aber trotz Sonnenscheins eiskaltes Wasser fließt darin gemächlich und lautlos. Der Graben umrundet hier einen Bauernhof, dort ein kleines Dorf und gibt kaum Gelegenheit, ihn zu Fuß zu überqueren. So wandere ich mäandernd an seiner sehr schmalen Kante Stunde um Stunde entlang. Ich kann mich kaum auf die Umgebung konzentrieren, weil ich mich durch das Gewicht meines schwankenden Rucksacks auf fast jeden meiner Schritte konzentrieren muss, um nicht unvorsichtigerweise im Wasser zu landen.

Hin und wieder haben wohl angrenzende Bauernhöfe ihre eigenen Wasserwehre in die Kanalflanke eingebaut, die sie bei Bedarf öffnen können, um die etwas tiefer liegenden Felder zu bewässern. Oder das begehrte Nass wird über schwarze Schläuche und Pumpen bei Bedarf herausgesaugt. Harzhaltige Sträucher versperren mehrfach den schmalen Fußpfad und verkleben Hose und Rucksack. Es fällt auf, dass ich jetzt die ersten großen Felder erkennen kann, die zwischen den Sträuchern angelegt sind.

Meine Begegnungen an diesen Tagen sind Frösche. Bei jedem meiner Schritte stürzen sich vor mir Dutzende von diesen kleinen Gesellen in die eiskalten Fluten. Weil das Wasser kristallklar ist, kann man sie in gestreckter und vorbildlicher Haltung bis in die Tiefe in der Mitte des Grabens abtauchen sehen. Dort verharren sie zusammen mit Kollegen und verschmelzen nahezu mit dem Grund. Ängstliche Kollegen springen sogar vom anderen Grabenrand, sobald ich auftauche. Ich wundere mich auch, dass ich entlang des gesamten Grabens keinen einzigen Vertreter der Gattung Storch entdecken kann, ist der Tisch doch wirklich reichhaltig gedeckt.

Nach ein paar Tagen gelange ich in den Alentejo, der größten Provinz Portugals. Uralte Korkeichen und ebenso betagte Olivenbäume bestimmen von nun an das Bild um mich herum, während ich dem Pilgerweg über sanfte Hügel folge.

Die kleinen und vereinzelt stehenden Bauernhöfe werden nach und nach abgelöst von größeren Gebäuden mit größeren landwirtschaftlichen Flächen. Weiter nördlich dagegen weichen diese Flächen riesigen Plantagen unter ebenso riesigen Kunststoffzelten und umgeben von kleinen umherwuselnden Armeen von Hilfskräften. Auch ändert sich das Angebot an Gerüchen; ist zu Beginn der Wanderung noch Salz und Tang in der Luft, so folgen wundervolle Blütendüfte zwischen den niedrigen Büschen, die aber schnell abgelöst werden durch den intensiven Geruch von Düngemittel und ab dem Nachmittag der Gestank von nassem Kaminrauch aus den Schornsteinen um mich herum.

Der Pilgerweg wird jäh von einem Gatter versperrt. Ich vergewissere mich in der Streckenbeschreibung und öffne das Tor zu einem privaten Besitz, durch den der Pilgerweg tatsächlich geführt wird. Für ein paar Stunden begegne ich wieder einmal nicht einer einzigen Menschenseele. Dafür bin ich umgeben von den für das Alentejo so typischen Korkeichen und Olivenbäumen. Beim genaueren Betrachten fällt auf, dass die Korkeichen am Stamm und an den Blättern erschreckend krank aussehen. Abends im Restaurant bringe ich die Unterhaltung auf diesen Missstand und ernte sehr unterschiedliche Meinungen: Die einen bedauern, man habe zu viele Vögel gefangen und das Ungeziefer zerfresse nun als Ergebnis die Korkeichen; die anderen sehen mehr den Einsatz von Chemie als Todbringer für Vögel und Korkeichen gleichermaßen.

Auf dem Land begegnen mir überwiegend alte Menschen; die Frauen sind durchgehend schwarz gekleidet und beäugen mich unverhohlen.  Während eine Gruppe von ihnen laut schwatzend in einem Haltestellenhäuschen zusammen sitzen, findet man die Männer ebenso lärmend im Wirtshaus gegenüber und sich über Dies und Das aufregend. Eine stattliche Anzahl von Männern, mit denen ich freundliche Grüße austausche, antworten mir nach kurzer Zeit in brauchbarem Deutsch, haben sie doch meistens um die 70er und 80er Jahre in der Stuttgarter Gegend lange Jahre gearbeitet. Auf die Frage, wann ich auf den Wasserkanal treffen werde, kommt prompt die Antwort: „Halb‘ Stund‘.“

Pit aus den Niederlanden lässt es sich nicht nehmen, ein paar Kilometer mit mir zu gehen und dabei zu schwatzen und von seinem Leben hier zu berichten. Er lebt seit vielen Jahren in Cercal und wird von jedem einheimischen Mann auf der Straße lautstark und freundlich begrüßt. Pit gehört einfach zur Kleinstadt. Pit bewohnt ein schönes Anwesen, aber jetzt hat man ihm ein lautes Holzpelletswerk vor die Nase gesetzt und er hat Sorge, dass er sein Grundstück deshalb nur mit erheblichem Verlust verkaufen wird.

Der mürrische Pensionsinhaber serviert mir wortlos ein einfaches Frühstück, dann fragt er mich, in welche Richtung ich marschieren will. Ich deute an, dass ich heute vom eigentlichen Wanderweg in Richtung Küstenstreifen abbiegen werde, um die nächste Etappe des Fishermen’s Trail direkt an den Klippen entlang zu wagen. Plötzlich freundlich und gesprächig lädt er mich ein, seinen Lieferwagen zu besteigen, der mich ein Stück weiter zur Küste bringen soll. Auf dem Weg stoppt er an einer kleinen Ruine und deutet an, dass er diese gekauft habe und zu einer weiteren Pension umbauen wolle. Ich sei herzlich gerne eingeladen, beim nächsten Besuch dort abzusteigen.

Mehrmals habe ich in Pensionen oder Hotels übernachten können, die kleine Häuschen straßenweise aufgekauft und sorgsam und originalgetreu restauriert haben; jedes Häuschen ist dabei eine eigenständige Wohneinheit und lässt keine Wünsche offen, bis auf den störenden Verkehrslärm, hervorgerufen vom rauen Kopfsteinpflaster der Dorfstraße.

In Odemira finde ich keine Pension oder Hotel, also lasse ich mich ins nahe Cercal fahren, von wo aus ich wieder an den Küstenstreifen und dann bis zum Städtchen Porto Covo laufen will. Auch diese Etappe kann sehr einsam sein, denn den ganzen Tag gibt es kein Geschäft oder Café, von Wanderern, Pilgern oder Einheimischen ganz zu schweigen. Kurz vor dem Porto Covo Forte und am menschenleeren Strand lädt mich ein kleines Restaurant zum Abendessen ein. Ein Tourist kommt auf mich zu und gibt sich als Ire zu erkennen; die Einladung auf ein Bier lehnt er dankend ab und gibt zu verstehen, dass er unbedingt das Fort besichtigen müsse, von dem man früher den Engländern ordentlich auf den Hut gegeben habe.

Von den erhöhten Klippen und hinunter schauend auf den anrollenden Atlantik entdecke ich nun auch Störche und Möwen, die sich auf den nadelspitzen Klippen ihre Nester gebaut haben und ziemlich sicher dort ihre Jungen aufziehen können, denn dorthin schaffen es weder Mensch noch andere gefährliche Räuber.

Ein großes Wohnmobil mit deutscher Zulassung parkt etwas abseits der Landstraße; im Vorbeigehen grüße ich freundlich den Besitzer und tausche ein paar Sätze aus. Man kommt aus Regensburg, war jetzt ein paar Monate hier im Süden Portugals und wird sich in ein paar Tagen auf die Rückreise machen wollen.

Mein Ziel ist eigentlich erreicht, ich habe Ausgangs- oder Endpunkt des portugiesischen Pilgerwegs zwar nicht direkt, aber dafür das Ende des „Fischerpfads“ erreicht. Santiago do Cacém liegt weiter östlich von hier am Ende oder Anfang des Historischen Pilgerwegs.

Ich verlasse die Rota Vicentina und richte meine Augen auf die nördlich liegende Stadt Sines, die sich schon weit entfernt zu erkennen gibt. Wegen des ausladenden Hafengeländes muss ich von den Strandwegen auf die nahe Landstraße ausweichen. Ich steige die steilen und mit Rucksack beschwerlich zu erklimmenden Treppen hoch hinauf in den Stadtbezirk und genieße von dort die Aussicht auf Hafen und Strand.

Am nächsten und letzten Tag meiner Wanderung lasse ich mich von einem freundlichen Portugiesen überreden, mit ihm bis nach Troja zu fahren, und von dort nur noch eine kleine Fährverbindung bis nach Sétubal zu nehmen, dem zukünftigen Ausgangspunkt meiner nächsten Wanderung entlang der portugiesischen Atlantikküste weiter nach Norden.

© OScAR 2016 (Stark gekürzte Ausgabe)