Von Sagres durch die Algarve und den Alentejo nach Norden

Sagres war geplant als Ausgangspunkt meiner Wanderung, doch dann beschloss ich,
dort loszulaufen, wo der Pilgerweg nicht nur offiziell endet oder beginnt, je nach eingeschlagener Richtung, sondern was
ihm auch seinen Namen gegeben hat: Ich starte am Cabo de São Vicente, dem südwestlichste Punkt der portugiesischen
Küstenlinie.
Ein Bus bringt mich und
andere Touristen also zu den windzerzausten Felsen mit dem Leuchtturm darauf,
den man in einer Entfernung von 40km noch erkennen soll, von dem wir hinunter auf die
schäumenden und anrollenden Wellen schauen können. Der eine oder andere
Besucher tastet mitunter hilfesuchend nach dem eine gewisse Sicherheit
suggerierenden Geländer. Der frische und stetige Wind lässt so manche Nase ein
Taschentuch anfordern, aber mit nur einer Hand, weil die andere den Kontakt zum
Geländer hält, kann so manches Tuch nicht am Davonflattern gehindert werden.
Dass der bekannte
Jakobsweg, so auch der Portugiesische, im spanischen Santiago de Compostela endet, hatte den Portugiesen wohl noch nie
so richtig gefallen, deshalb entdeckten sie ihren eigenen Pilgerweg, der auch
in einem Santiago, dem Santiago de Cacém endete. Oder dort
begann. Seit 2012 ist dieser Pilgerweg ausgeschildert und für geübte Pilger und
Wanderer durchgängig begehbar, sieht man einmal von einigen wirklich
atemraubenden Engstellen ab, die direkt an Klippen und über schäumenden Wellen gemeistert
werden müssen. Es sind ca. 350 km zu begehen, wenn man alle Etappen zusammen
rechnen würde.
Die ersten Etappen führen
mich durch die Algarve, die
südlichste der sieben Regionen Portugals. Den beliebten Küstenabschnitten im
Süden, die „Sand-Algarve“ genannt werden und von Sandstränden und Lagunen
geprägt sind, folgt nach Westen hin die „Fels-Algarve“ mit ihren zerfurchten
20-50m hohen Steilküsten mit malerischen Formationen aus gelben und rötlich braunen Kalk- und Sandsteinfelsen, an denen
unentwegt der Atlantik nagt. Im Landesinneren der Algarve gibt es nur sehr wenig Touristik.
Noch fehlt es entlang des
Pilgerwegs ziemlich überall an der notwendigen Infrastruktur; hin und wieder
endet eine Etappe ohne Hoffnung auf ein Hotelzimmer oder eine Schlafstätte.
Auch muss es unterwegs ja nicht gleich eine Sitzbank sein, ein umgestürzter
Baumstamm wäre schon recht praktisch; bis auf einen solchen und einem großen
Steinblock suche ich vergebens. Auch fehlen mir die kleine Rastmöglichkeiten
und die kleinen Läden und Cafés entlang der Strecke.
Ich kann
wählen zwischen dem „Historischen Weg“, dem „Caminho Histórico“, und dem „Fischerpfad“, dem „Trilho dos Pescadores“. Viel Mühe hat man sich gemacht bei der Kennzeichnung
der einzelnen Streckenabschnitte; durchgehend folge ich der Farbmarkierung in
rot-weiß für den „Historischen Weg“, und einer dezenten grün-blau Markierung
für den „Fischerpfad“ jeweils direkt an den Klippen entlang. Es gibt keinen
durchgehenden Pilgerweg über die Klippen, sondern es gibt parallel zum „Historischen
Weg“ einige Etappen und Abstecher auf die Klippen. Deshalb muss ich mich
entscheiden, ob ich den „Historischen Weg“ mehr im Landesinneren gehe und auf
Klippen und Kletterabschnitte verzichte, oder zwischendurch zu den
Klippenabschnitten abbiege, dort diese Abschnitte durchwandere und wieder zum
Hauptweg zurückkehre. Für mich wäre es sinnvoller, wenn man diese
Klippenabschnitte miteinander verbinden und so einen parallel verlaufenden „Fischerpfad“
anbieten würde.
Der stetige Wind zu Beginn der Wanderung und auf den ebenen und strauch-
und baumlosen Flächen verdirbt wohl den üblichen Insekten die Lust am Schwirren,
lediglich ein paar kleinere Scharen von Vögeln steigen bei meiner Annäherung in
die Höhe, flattern fast hilflos vor mir her und nach mehreren Schritten sind
sie plötzlich verschwunden; dadurch haben sie mich von ihren Bodennestern
weggelockt. Schon am Ende des ersten
Tags vermisse ich die Vögel und anderes Getier, und je weiter nördlich ich mich
begebe, umso weniger kann ich Vögel, Insekten oder anderes Krabbeltier
beobachten. Ein paar Ameisen vielleicht.
Die wenigen Steinmauern
sind umgefallen oder von Gras und Büschen überwuchert. Viele eingefallenen
Bauernhöfe geben der Gegend ein gespenstisches Bild. Keine Menschenseele lässt
sich blicken, bis auf den alten Mann, der mich in Gummistiefeln ein Stück
begleitet und mir Interessantes über seine „porco
preto“ Schweine erzählt. Er versteht nicht, dass ich ihn nicht verstehe.
Zuerst ist der Weg wegen des steinigen Untergrunds angenehm zu laufen, doch
dann werde ich unverständlicherweise mehrmals umdirigiert, so ich denn der
Beschilderung folge, stoße dann irgendwann wieder auf den ursprünglichen Weg.
Einmal erklimme ich einen völlig nackten Hügel, nachdem ich ein paar
Serpentinen gefolgt bin, stehe auf der Hügelkuppe, sehe mit eigenen Augen im
Tal den staubigen Weg, wandere auf der andere Seite den Hügel wieder hinunter in
Richtung Bobadeira und treffe
tatsächlich wieder auf die Beschilderung mitsamt dem Pilgerweg. Wäre ich meinem
Gefühl, meinem Orientierungssinn, meinem GPS Gerät und nicht der Beschilderung
gefolgt, wäre ich tatsächlich an einer Gebäudeansammlung mit einem
Kleinstrestaurant vorbeigelaufen. Dabei stellt sich mir die Frage, ob dieser
Umweg möglicherweise vom Besitzer des Restaurants gesponsert ist. Das wird
nicht die einzige Umleitung in den nächsten Tagen bleiben und stellt sich in
meinen Augen als recht geschickte Beeinflussung der Etappenführung dar.
Ein schmaler Weg
schlängelt sich an einem Bach entlang und zwingt mich mehrmals zum Durchwaten
des eiskalten Wassers. Glücklicherweise liegen an solchen Furten entsprechend
hilfreiche Steine und verhindern, dass ich entweder Schuhe und Socken ausziehen
oder die Wasserdichtheit meiner Schuhe testen muss.
Zu den wenigen Begegnungen mit anderen Wanderern zählt auch das rüstige
Berliner Ehepaar, das ich an einem Tag gleich zweimal treffe. Und natürlich
auch der Marketing Professor aus Heidelberg in einem winzigen aber exzellenten
Restaurant bleibt mir in Erinnerung.
Während der Wind seine
Kraft weiter verliert, bestrahlt die Sonne die Ebene, in der Anzahl und Höhe
der Büsche stetig zugenommen hat. Ein herrlicher Duft liegt über der Ebene, was
man ja generell über die Algarve
berichten kann. Viel Abwechslung wird mir allerdings nicht geboten, bis ich den
Bewässerungsgraben erreiche, dem ich nunmehr folgen werde. Fast vier Meter ist er breit und in seiner Mitte
sicherlich zwei Meter tief. Glasklares aber trotz Sonnenscheins eiskaltes
Wasser fließt darin gemächlich und lautlos. Der Graben umrundet hier einen
Bauernhof, dort ein kleines Dorf und gibt kaum Gelegenheit, ihn zu Fuß zu
überqueren. So wandere ich mäandernd an seiner sehr schmalen Kante Stunde um
Stunde entlang. Ich kann mich kaum auf die Umgebung konzentrieren, weil ich
mich durch das Gewicht meines schwankenden Rucksacks auf fast jeden meiner
Schritte konzentrieren muss, um nicht unvorsichtigerweise im Wasser zu landen.
Hin und wieder haben wohl
angrenzende Bauernhöfe ihre eigenen Wasserwehre in die Kanalflanke eingebaut,
die sie bei Bedarf öffnen können, um die etwas tiefer liegenden Felder zu
bewässern. Oder das begehrte Nass wird über schwarze Schläuche und Pumpen bei
Bedarf herausgesaugt. Harzhaltige Sträucher versperren mehrfach den schmalen
Fußpfad und verkleben Hose und Rucksack. Es fällt auf, dass ich jetzt die
ersten großen Felder erkennen kann, die zwischen den Sträuchern angelegt sind.
Meine Begegnungen an
diesen Tagen sind Frösche. Bei jedem meiner Schritte stürzen sich vor mir
Dutzende von diesen kleinen Gesellen in die eiskalten Fluten. Weil das Wasser
kristallklar ist, kann man sie in gestreckter und vorbildlicher Haltung bis in die
Tiefe in der Mitte des Grabens abtauchen sehen. Dort verharren sie zusammen mit
Kollegen und verschmelzen nahezu mit dem Grund. Ängstliche Kollegen springen
sogar vom anderen Grabenrand, sobald ich auftauche. Ich wundere mich auch, dass
ich entlang des gesamten Grabens keinen einzigen Vertreter der Gattung Storch
entdecken kann, ist der Tisch doch wirklich reichhaltig gedeckt.
Nach ein paar Tagen gelange ich in den Alentejo,
der größten Provinz Portugals. Uralte Korkeichen und ebenso betagte Olivenbäume
bestimmen von nun an das Bild um mich herum, während ich dem Pilgerweg über
sanfte Hügel folge.
Die kleinen und
vereinzelt stehenden Bauernhöfe werden nach und nach abgelöst von größeren
Gebäuden mit größeren landwirtschaftlichen Flächen. Weiter nördlich dagegen
weichen diese Flächen riesigen Plantagen unter ebenso riesigen Kunststoffzelten
und umgeben von kleinen umherwuselnden Armeen von Hilfskräften. Auch ändert
sich das Angebot an Gerüchen; ist zu Beginn der Wanderung noch Salz und Tang in
der Luft, so folgen wundervolle Blütendüfte zwischen den niedrigen Büschen, die
aber schnell abgelöst werden durch den intensiven Geruch von Düngemittel und ab
dem Nachmittag der Gestank von nassem Kaminrauch aus den Schornsteinen um mich
herum.
Der Pilgerweg wird jäh
von einem Gatter versperrt. Ich vergewissere mich in der Streckenbeschreibung
und öffne das Tor zu einem privaten Besitz, durch den der Pilgerweg tatsächlich
geführt wird. Für ein paar Stunden begegne ich wieder einmal nicht einer
einzigen Menschenseele. Dafür bin ich umgeben von den für das Alentejo so typischen Korkeichen und Olivenbäumen.
Beim genaueren Betrachten fällt auf, dass die Korkeichen am Stamm und an den
Blättern erschreckend krank aussehen. Abends im Restaurant bringe ich die
Unterhaltung auf diesen Missstand und ernte sehr unterschiedliche Meinungen:
Die einen bedauern, man habe zu viele Vögel gefangen und das Ungeziefer
zerfresse nun als Ergebnis die Korkeichen; die anderen sehen mehr den Einsatz
von Chemie als Todbringer für Vögel und Korkeichen gleichermaßen.
Auf dem Land begegnen mir
überwiegend alte Menschen; die Frauen sind durchgehend schwarz gekleidet und
beäugen mich unverhohlen. Während eine
Gruppe von ihnen laut schwatzend in einem Haltestellenhäuschen zusammen sitzen,
findet man die Männer ebenso lärmend im Wirtshaus gegenüber und sich über Dies
und Das aufregend. Eine stattliche Anzahl von Männern, mit denen ich
freundliche Grüße austausche, antworten mir nach kurzer Zeit in brauchbarem
Deutsch, haben sie doch meistens um die 70er und 80er Jahre in der Stuttgarter
Gegend lange Jahre gearbeitet. Auf die Frage, wann ich auf den Wasserkanal
treffen werde, kommt prompt die Antwort: „Halb‘ Stund‘.“
Pit aus den Niederlanden lässt es sich nicht nehmen, ein paar Kilometer mit
mir zu gehen und dabei zu schwatzen und von seinem Leben hier zu berichten. Er
lebt seit vielen Jahren in Cercal und
wird von jedem einheimischen Mann auf der Straße lautstark und freundlich
begrüßt. Pit gehört einfach zur Kleinstadt. Pit bewohnt ein schönes Anwesen,
aber jetzt hat man ihm ein lautes Holzpelletswerk vor die Nase gesetzt und er
hat Sorge, dass er sein Grundstück deshalb nur mit erheblichem Verlust
verkaufen wird.
Der mürrische Pensionsinhaber serviert mir wortlos ein einfaches Frühstück,
dann fragt er mich, in welche Richtung ich marschieren will. Ich deute an, dass
ich heute vom eigentlichen Wanderweg in Richtung Küstenstreifen abbiegen werde,
um die nächste Etappe des Fishermen’s
Trail direkt an den Klippen entlang zu wagen. Plötzlich freundlich und
gesprächig lädt er mich ein, seinen Lieferwagen zu besteigen, der mich ein Stück
weiter zur Küste bringen soll. Auf dem Weg stoppt er an einer kleinen Ruine und
deutet an, dass er diese gekauft habe und zu einer weiteren Pension umbauen
wolle. Ich sei herzlich gerne eingeladen, beim nächsten Besuch dort
abzusteigen.
In Odemira finde ich keine
Pension oder Hotel, also lasse ich mich ins nahe Cercal fahren, von wo aus ich wieder an den Küstenstreifen und dann
bis zum Städtchen Porto Covo laufen
will. Auch diese Etappe kann sehr einsam sein, denn den ganzen Tag gibt es kein
Geschäft oder Café, von Wanderern, Pilgern oder Einheimischen ganz zu
schweigen. Kurz vor dem Porto Covo Forte
und am menschenleeren Strand lädt mich ein kleines Restaurant zum Abendessen
ein. Ein Tourist kommt auf mich zu und gibt sich als Ire zu erkennen; die
Einladung auf ein Bier lehnt er dankend ab und gibt zu verstehen, dass er
unbedingt das Fort besichtigen müsse, von dem man früher den Engländern ordentlich
auf den Hut gegeben habe.
Von den erhöhten Klippen
und hinunter schauend auf den anrollenden Atlantik entdecke ich nun auch
Störche und Möwen, die sich auf den nadelspitzen Klippen ihre Nester gebaut
haben und ziemlich sicher dort ihre Jungen aufziehen können, denn dorthin
schaffen es weder Mensch noch andere gefährliche Räuber.
Ein großes Wohnmobil mit
deutscher Zulassung parkt etwas abseits der Landstraße; im Vorbeigehen grüße
ich freundlich den Besitzer und tausche ein paar Sätze aus. Man kommt aus
Regensburg, war jetzt ein paar Monate hier im Süden Portugals und wird sich in
ein paar Tagen auf die Rückreise machen wollen.
Mein Ziel ist eigentlich
erreicht, ich habe Ausgangs- oder Endpunkt des portugiesischen Pilgerwegs zwar
nicht direkt, aber dafür das Ende des „Fischerpfads“ erreicht. Santiago do Cacém liegt weiter östlich
von hier am Ende oder Anfang des Historischen Pilgerwegs.
Ich verlasse die Rota Vicentina
und richte meine Augen auf die nördlich liegende Stadt Sines, die sich schon weit entfernt zu erkennen gibt. Wegen des
ausladenden Hafengeländes muss ich von den Strandwegen auf die nahe Landstraße
ausweichen. Ich steige die steilen und mit Rucksack beschwerlich zu
erklimmenden Treppen hoch hinauf in den Stadtbezirk und genieße von dort die
Aussicht auf Hafen und Strand.
Am nächsten und letzten
Tag meiner Wanderung lasse ich mich von einem freundlichen Portugiesen
überreden, mit ihm bis nach Troja zu
fahren, und von dort nur noch eine kleine Fährverbindung bis nach Sétubal zu nehmen, dem zukünftigen
Ausgangspunkt meiner nächsten Wanderung entlang der portugiesischen
Atlantikküste weiter nach Norden.
©
OScAR 2016 (Stark gekürzte Ausgabe)