Dienstag, 18. Dezember 2012

Auf dem Jakobsweg

Auf dem Portugiesischen Jakobsweg nach Lissabon


Die Kathedrale von Santiago de Compostela spiegelt sich auf dem weitläufigen Vorplatz in den Pfützen, die von einer regnerischen Nacht zeugen. Dunkle Wolken hängen schwer beladen über den Hügeln. Die Kathedrale steht über einer Grabstätte, die dem Apostel Jakobus zugeschrieben wird und ist das eigentliche Ziel aller Pilger auf dem Jakobsweg, unabhängig von den verschiedenen Ausgangspunkten.

Kaum habe ich den lauten Stadtbereich verlassen und schreite auf Eindrücke und Ereignisse hoffend den mit gelben Pfeilen gekennzeichneten Weg in entgegengesetzter Richtung entlang, da prasselt urplötzlich ein starker Regenschauer auf mich herab. In wenigen Minuten bin ich durchnäßt, bevor ich mich schützend unter das ausladende Dach einer Tankstelle retten kann. So stehe ich da und warte auf das Ende des Regenschauers. Ich warte. Ich warte lange. Die immer noch dunklen Wolken lassen mich nach zwei Stunden einfach aufgeben. Was für eine Blamage zum Beginn meiner Wanderschaft! Schon am ersten Tag schlüpfe ich nachmittags in ein nahegelegenes Motel direkt an der Nationalstraße N-550 und bereite meine nassen Siebensachen auf dem Bett zum Trocknen aus.


Am nächsten Morgen starte ich erneut meine Wanderschaft, nachdem ich mich von einer vielversprechenden Wettervorhersage habe dazu überreden lassen. Diesmal gibt es im Motel ein einfaches Frühstück, gestern gab es nur einen Kaffee und ein Croissant in einem Café. Nach einer guten Stunde liegt Santiago de Compostela hinter mir.  

Dort war mein Ausgangspunkt gewesen, dort strömten mir verschmutzte und gezeichnete Pilger mit verklärten Gesichtern und wunden Füßen entgegen auf den letzten Metern zur Kathedrale. Dort begannen auch meine gestikulierende Erklärungen, erst mit meinem Arm nach Norden deutend und meinen Kopf verneinend schüttelnd, dann mit meinem Arm nach Süden deutend und mit meinem Kopf bejahend nickend, und dazu das Zauberwort Fátima aussprechend. Am verständnisvollen Lächeln des freundlichen und hilfsbereiten Mitmenschen war somit abzulesen, daß man mich nicht vor einer gewissen Orientierungslosigkeit bewahren mußte.

Ich versuche eine für mich Ungeübten passende Schrittgeschwindigkeit zu finden. Zu schnell schreite ich dahin und verlangsame freiwillig meinen Rhythmus immer wieder. Es fällt mir in den ersten beiden Tagen sehr schwer, doch dann werde ich automatisch langsamer. Viel langsamer. Sehr viel langsamer. Denn Steigungen bis zu 10% würden mich auch ohne Rucksack bremsen. Mit Rucksack aber lerne ich das Kleine Einmaleins bei drei Töchtern zum fünften Mal in meinem Leben: Erst zähle ich 100 Doppelschritte, halte an und atme tief durch; dann gibt es Abschnitte, bei denen ich nur 50 Doppelschritte zähle und kurz pausieren muß; 25 Doppelschritte verlangen eine längere Verschnaufpause; und mehrmals bin ich schon nach 10 Schritten völlig atemlos und halte mich vornübergebeugt, schwanke und fürchte, daß der Rucksack bei kleinster Unaufmerksamkeit mich mindestens die letzten 10 Schritte zurück rollen wird. Aber diese Wanderabschnitte liegen noch vor mir und erwarten mich irgendwann in den nächsten Wochen.

Je weiter ich mich von Landstraßen entferne und auf schmalen Wegen und Pfaden dahinschreite, um so öfter wundere ich mich über eine Vogelstimme, die mich jedesmal aufhorchen läßt, wenn ich irgendwo abbiegen muß. Am zweiten Tag wundere ich mich noch mehr darüber, bis mir auffällt, daß mein Navigationssystem an solchen Abbiegestellen diesen Piep Ton erzeugt. Am zweiten Tag wundere ich mich außerdem, wie ich mit dem befürchteten Muskelkater überhaupt noch meine Füße voreinander setzen kann. Zum Glück ebbt der Kater nach wenigen Tagen ab, doch bei den erwähnten Steigungen lerne ich plötzlich weitere Muskel an mir kennen, von deren Existenz ich wahrlich überrascht bin.

Der Camino de Santiago führt mich auf schmalen und leicht zu beschreitenden Pfaden durch dschungelähnliche Wälder, an kleinen steinmauerumrahmten Maisfeldern entlang, unter über den Weg rankenden Reben hindurch, an einsamen Bauernhäusern vorbei und durch kleine Dörfer, aber immer führt der Weg von Kirche zu Kirche. Steinkreuze markieren hier und da die Pilgerstraße, aber auch einige Müllhalden verzieren unverständlicherweise den Pfad. Asphaltierte Abschnitte sind anfänglich rar, eher Sand- und Feldwege, hin und wieder grobes Kopfsteinpflaster, manchmal auch große Steinplatten, aber auch rutschiges Geröll in allen Körnungen.


Kleine sprudelnde Brunnen spenden überall kühles Naß, Feigen- und Apfelbäume am Wegesrand verführen zu Mundraub, aber zur Not ziert eine einheimische Bar jeden noch so kleinen Ort; dort erwerbe ich meinen Milchkaffee und Eßbares. Ein einfaches Schwätzchen kann ich zudem dort immer führen; es beginnt mit der einfachen Frage nach der richtigen Richtung, und danach entwickelt sich das immer wieder beliebte Frage-Antwort-Spiel.

Nachdem es den größten Teil des Tages trocken geblieben ist, verärgert mich dann doch noch ein Regenschauer, obwohl ich diesmal darauf vorbereitet bin. In Padron nehme ich mir in einem einfachen Hotel ein Zimmer, bekomme ein schreckliches Steak, das den Namen niemals verdient, serviert und schlafe erschöpft ein.

Bei Nebel und Morgenfrische und nach einem Flirt mit einer spanischen Kassiererin in einem kleinen Supermarkt kämpfe ich mich keuchend und schwitzend einen Anstieg hinauf und werde oben mit Sonnenschein, einem im Knie schmerzenden Abstieg und dann mit einem wunderschönen Streckenabschnitt belohnt. Weil ich stetig nach Süden wandere, bräunt die Sonne täglich vom Vormittag bis zum Nachmittag mein Gesicht und arbeitet unermüdlich an einem Sonnenbrand. Das Gewicht des Rucksacks plane ich jetzt schon zu reduzieren, warte dafür aber auf eine günstige Gelegenheit. Bisher sind mir wenige Pilger begegnet, abgesehen von den zwei Deutschen an diesem Tag, die geradezu den Pilgerpfad entlang hetzen. Am späten Nachmittag erreiche ich Caldas De Reis und nehme mir wieder ein kleines Hotelzimmer.

Am nächsten Morgen lasse ich mir mit dem Aufbruch etwas Zeit, damit ich loslaufen kann, wenn es etwas wärmer geworden ist. Ein ebenfalls wunderschöner Streckenabschnitt liegt vor mir, auf dem ich zwei Pilgergruppen treffen werde, die beide von Lissabon in 28 bzw. 25 Tagen die Strecke bis hierher geschafft haben. Ich dagegen leide derzeit etwas unter dem Schmerz im linken Knie, besorge mir also bei nächster Gelegenheit eine elastische Binde, die von nun an auch tatsächlich den Schmerz lindert.

Mir fällt auf, daß sehr viele Häuser und Höfe dem Verfall preisgegeben sind, selbst mitten in einem Dorf. Statt dessen sind nagelneue und moderne Häuser inmitten der alten Steinbauten errichtet worden und bilden einen krassen Gegensatz zueinander. Aber alle Häuser auf dem Land und in überschaubaren Orten haben eines gemeinsam: Fensterläden, Rolläden, Türen und Tore sind permanent geschlossen. Mir kommt es vor, als seien diese Gebäude nicht bewohnt, oder nur an Wochenenden, aber es gibt untrügliche Anzeichen, daß sie bewohnt sind: Ein Automobil mit laufendem Motor, Kinderspielsachen, Wäsche auf der Leine, laute Musik und viele andere Indikatoren. Diese Beobachtung gilt gleichermaßen für Spanien und Portugal.


Auf den Anhöhen überwiegen waldige Abschnitte mit hauptsächlich Nadelbäumen, in den tieferen und öfter auch feuchteren Abschnitten dagegen ragen Farne und bambusartige Bäume mit kerzengeraden Stämmen und Pampasgras über den Weg hinweg. Die Felder sind noch überschaubar klein und tragen Mais. Die Bauern bewirtschaften die Äcker mit kleinen Traktoren, von denen manche in einem bedauernswerten Zustand sind. So sind auch die vielen Mopeds, die stinkend und knatternd über Stock und Stein rattern.

Eine weitere Kennzeichnung des Pilgerwegs sind die steinernen Kreuze, auf die ich sowohl in den Orten als auch einsam in Feld, Wald und Flur stoße. Die Sockel dieser Kreuze sind über und über mit Steinen übersät, die Pilger über die Jahre in einem Ritual aufgeschichtet haben. Hin und wieder sind Plastikblumen oder bunte Schleifen hinzugefügt. Zwischendurch finde ich auch sogenannte Steinmännchen, die ebenfalls als Wegkennzeichnung dienen.

Weil die Beschilderung immer dürftiger und sogar irreführender wird, bitte ich eine freundliche spanische Familie um Rat; Sohn Pablo und Tochter Sonja zögern nicht lange und fahren mich im Familienauto die etwa 2km in die Stadt Pontevedra hinein. Nach einem üppigen Salat und einem kleinen Steak schlafe ich in meinem Hotelbett schlagartig ein.

Morgens bemerke ich dankbar, daß der Muskelkater mich nicht mehr quält, und ich muß mich auch nicht mehr aus dem Bett stemmen. Bisher unterstütze ich meine Aufstehversuche mit den Worten „liftoff, we have a liftoff“ aus der amerikanischen Raumfahrt.

Die Kennzeichnung aus der Stadt hinaus ist mangelhaft und der Weg führt über lange Strecken über grobes Geröll, besonders bei den Steigungen. Unterwegs treffe ich einen 76-Jährigen, der mir bei Erwähnung der Stadt Frankfurt mitten auf dem Jakobsweg ein Ständchen bereitet und ein paar Lieder über Frankfurt singt. Er ist hoch erfreut, einen Pilger zu treffen, den ein - wie er sagt - sinnvoller Grund zum Pilgern ermuntert hat und der diese Strapazen auf sich nimmt. Etwas später holt mich ein fliegender Pilger aus Aachen mit leichtem Gepäck ein, begleitet mich ein paar Schritte, bevor er sich verabschiedet und davon eilt. Und mir scheint, daß alle Pilger mit wesentlich schnellerem Schritt die Etappen angehen. Trotzdem erreiche ich nachmittags ein kleines Hotel in Redondela und flirte mit einer kubanischen Rezeptionistin.

Zur Strafe schlafe ich sehr schlecht, kann aber am nächsten Morgen munter loslaufen und nach den blauen Pfeilen Ausschau halten. Zwei ordentliche Steigungen verlangen an diesem Tag sehr, sehr viel von mir ab und machen mich letztendlich platt. Unglücklicherweise erwischt mich wieder einmal ein Regenschauer, der zusätzlich den Pilgerweg in eine Rutschbahn verwandelt. Deshalb verlasse ich den Weg und versuche auf Landstraßen, den nächsten Ort und ein Hotel zu finden. Als mir das nicht so recht gelingt und mir die Nässe zusetzt, fange ich mir ein Taxi ein, lasse mich durch eine Industrieansammlung nördlich von Tui fahren und vor dem erstbesten Hotel absetzen. Ein abendlicher Rundgang durch die letzte Stadt in Spanien vor der Grenze nach Portugal ist enttäuschend, denn ich entdecke zwar viele Bierstuben, aber kein Restaurant, also muß ich mich mit einem Salatteller begnügen.

Über Nacht habe ich beschlossen, meinen Rucksack auszudünnen und wirklich unnütze Dinge zu entfernen; ich kaufe mir im spanischen Postamt einen Karton, stopfe den superleichten Schlafsack, eine überflüssige Jacke, die ISO-Matte und kleinere Dinge hinein, von denen ich mich wirklich trennen kann; das Paket sende ich an meine Tochter, die sich darüber in ein paar Tagen schon wundern wird.


Durch die Stadt hindurch gehe ich auf die Grenzbrücke zu, die den Rio Miño überspannt. Auf der gegenüberliegenden Seite liegt neben der großen Bastion die korrespondierende portugiesische Grenzstadt Valença. Kurz vor der Brücke treffe ich auf Paul, den Kanadier, der hier wohl gestrandet ist und sich als Englisch-Lehrer das nötige Geld zum Überleben verdient. Nach mehreren Tassen Kaffee hat er mir seine Lebensgeschichte erzählt und mir Glück auf meinem Wanderweg gewünscht.


Mitten auf der Brücke stelle ich jede meiner Uhren um eine Stunde zurück, denn von nun an bin ich in Portugal. Aber auch hier warten steile Anstiege auf mich, die meine letzten Kräfte abrufen. Am Ende eines Geröllfeldes entdecke ich eine der typischen Pensionen entlang des Pilgerwegs in der Nähe von Rubiäes und kehre dort ein. Die Besitzerin ist ausgesprochen unfreundlich und sehr knapp mit Worten. Um diese Pension herum gibt es kaum Gebäude und deshalb auch kein noch so kleines Restaurant. Abends fährt ein Auto vor und ich werde kostenlos in den nächsten Ort und zu dem einzigen Restaurant gefahren. Dort treffe ich zwei amerikanische Paare, die mit sehr leichtem Gepäck nach Santiago laufen. Wir haben eine nette Unterhaltung und tauschen die ersten Erfahrungen aus.

Um 7:30 Uhr klopft mich die Besitzerin der Pension aus dem Bett und läßt mir kaum Zeit für ein einfaches Frühstück. Ich verabschiede mich von den Amerikanern und laufe sogleich los. Als ich den ersten Hügel erklimme, hüllt mich ein wahrer Chor von Glockengeläut aller Kirchen in der hügeligen Umgebung ein. Sie alle läuten die gleichen Töne und im gleichen Rhythmus, lediglich wegen der unterschiedlichen Entfernung zu mir zeitlich leicht versetzt. Ein unvergleichlicher Genuß.

In den nächsten Tagen werde ich von jeder nahen und fernen Kirche ein identisches Stundenläuten hören, denn man hat auf die Kirchtürme große Lautsprecher installiert, die von irgendeiner Zentrale das Geläut und die Stundenschläge an allen angeschlossenen Kirchen ertönen lassen. Die Wegstrecke heute ist dagegen unbarmherzig, denn ich laufe nur auf Geröll die Anstiege hinauf und auch anschließend die Abstiege hinunter. Mein Navigationssystem piepst nicht mehr, weil ich eigentlich eine andere Streckenführung einprogrammiert habe, statt dessen markiere ich die Abweichungen zu meiner Planung und halte die Wegpunkte des Caminho de Santiago (so ist die portugiesische Schreibweise) im System fest. Mir begegnen heute mehrere Deutsche und Iren, und eine sehr lustige und lärmende Pilgergruppe aus der Pfalz.

Abends erreiche ich Ponte de Lima mit seiner fotogenen römischen Steinbrücke, ignoriere die Herberge und halte Kurs auf das einzige Hotel in der Stadt. Das mir angebotene Hotelzimmer ist ideal für einen weiteren Wäschewaschgang. Ein kleiner Stadtrundgang und ein kleiner Happen zum Abendessen runden den anstrengenden Tag ab.

Von der Sonne werde ich am nächsten Morgen freundlich begrüßt. Sie wird mich den Tag begleiten, mir den Schweiß nicht nur auf die Stirn treiben und für den Sonnenbrand sorgen. Ich ahne noch nicht, daß ich geradezu auf den Streckenabschnitt zuhalte, der mir die allerletzten Reserven abverlangen wird. Auf rutschigem Geröll klettere ich unentwegt die steilen Waldwege hinauf und wuchte meinen Rucksack über Engstellen und Felsbrocken. Die Kilometer ziehen sich wie ein Gummiband in die Länge. Schon wird es dunkel und damit auch empfindlich kalt, aber ich stapfe mühsam weiter und erreiche bei Dunkelheit die einzige Übernachtungsmöglichkeit in Tamel, auf dem höchsten Punkt des Portugiesischen Jakobswegs.

Zum ersten Mal seit Beginn meiner Wanderung kehre ich dort in einer Herberge ein. Zwei Schlafsäle mit doppelstöckigen Betten, Toiletten und Duschen im Flur, Kochgelegenheit, Wäschetrockenraum und eine bunte Mischung aus Mitpilgern und Mitpilgerinnen. Jetzt wird mir bewußt, daß ich mich von meinem Schlafsack wohl etwas verfrüht verabschiedet habe. Ich bastele mir aus meinen Kleidungsstücken und Regenponcho eine Zudecke und aus dem geleerten Rucksack eine Art Kopfkissen. Danach nehme ich im Restaurant gegenüber ein kleines Steak und das eine oder andere Glas Bier. Dabei lerne ich ein Pärchen aus Mexiko kennen, mit dem ich mich austausche und dem ich gerne von der bisher von mir zurückgelegten Strecke berichten kann. Dieser Mexikaner wird uns allen in Erinnerung bleiben. Er geht zu Bett und beginnt sofort mit einem Schnarchkonzert, das aus einem einzigen Akt besteht, aber dieser hält tatsächlich die gesamte Nacht an.

Entsprechend müde und gerädert werfe ich mir den Rucksack auf den Rücken und laufe früh am Morgen ohne Frühstück erst einmal los. In den nächsten Stunden erfüllt alle 15 Minuten der stetige melodische Klang der Kirchenglocken, also der Lautsprecher, in den umliegenden Dörfern die Ruhe, die über dem Streckenabschnitt liegt. Doch auch die Landschaft verändert sich zunehmend. Die Bewaldung weicht zurück, die Felder werden größer und die Erntemaschinen und großen Traktoren ändern das bäuerliche Bild. Die kleinen Bauernhöfe weichen jetzt großen und stolzen Gutshöfen, die sich mehr und mehr hinter imposanten eisernen Toren und Zufahrten verstecken. Aber auch die Gerüche verändern sich, jetzt überwiegt der Geruch von Silos, Diesel und Ammoniak aus den großen Stallungen, an denen ich vorbeilaufe.

Nachmittags erreiche ich die Kleinstadt Barcelos und genehmige mir erst einmal eine längere Pause auf dem großen Marktplatz, um das Geschehen zu beobachten. Dort findet jeden Donnerstag – und heute ist Donnerstag – ein riesiger, ländlicher Markt, Feira de Barcelos, statt. Dann aber marschiere ich durch die schattigen Sträßchen hinunter zur Brücke über den Fluß Cavado, der Barcelos von Barcelinhos trennt. Ich schiebe mich hinauf und aus dem Ort hinaus, muß aber nach einiger Zeit feststellen, daß ich wegen meiner langen Pause relativ spät unterwegs bin und nur im Eilmarsch eine Unterkunft finden werde. Also bitte ich einen Frisör in seinem kleinen Laden an der Straße, mir ein Taxi zu rufen und lasse mich zurück in die Stadt und in ein kleines Hotel fahren.

Früh bin ich schon wieder auf den Beinen, lasse mich von einem Taxi zum gestrigen Endpunkt bringen und marschiere beschwingt bei schönstem Wetter los. Eine erneute Unstimmigkeit zwischen der Beschilderung und meinem Navigationssystem beschert mir ein paar Zusatzkilometer bei brütender Hitze. Zwischenzeitlich überwiegen riesige Ackerflächen, auf denen mit Hochdruck und mit riesigen Erntemaschinen Mais geschnitten und sogleich zu Silage gehäckselt wird. Große Schlepper ziehen mit hoher Geschwindigkeit große und schwer beladene Anhänger über schmale Feldwege und lassen mir zwischen den Feldmauern kaum Platz zum Ausweichen.

In Rates will ich in einer Herberge übernachten, doch diese ist schon am Nachmittag überlaufen, was mich zum Weitermarschieren zwingt. Urplötzlich eilt mir in einer winzigen Seitenstraße eine Gestalt entgegen, hält seine Finger der rechten Hand wie eine Pistole geformt und redet wirres Zeug; jedenfalls klingt sein Portugiesisch für mich so. Ich muß trotzdem lachen, ziehe mein Brotmesser aus der Scheide und drohe ihm mit Ohrenabschneiden. Wie ein Wirbelwind verschwindet er wieder zwischen den Steinhaufen.

Während ich vor einem winzigen Café meinen Kaffee genießen kann, setzt sich David aus Liverpool an mein Tischchen. Er ist so etwa mein Alter und kommt gerade aus Lissabon gelaufen. Nun ja, Laufen kann man das nicht bezeichnen, was ich so beobachtet habe. Während er seine nackten und mit roten Flecken übersäten Unterarme ständig kratzt, erzählt er mir von seiner Frau, die gerade verstorben ist und weshalb es ihn auf den Jakobsweg geführt hat. Dann jammert er über die 60km Strecke aus Lissabon hinaus nach Norden und zwei Tage lang nur durch Industriegebiete und auf Asphalt, was ihm sogleich eine größere Blase beschert hat. Wie zum Beweis entfernt er vorsichtig Schuh und Socken und gibt einer übergroßen Blase etwas Licht und Luft. Ich mutiere zur Krankenschwester und versorge seine lädierte Fußsohle, an die er nur unter Anstrengungen kommen würde, mit meinem größten Spezialpflaster für Blasen. Als ich ihm dann noch meinen Stift gegen Insektenstiche und –bisse überlasse, strahlt er übers ganze Gesicht. Es sind wohl Bettwanzen gewesen, die ihn in der letzten Herberge überfallen haben. Wahrscheinlich schleppt David nun einige der Biester mit sich herum und in die nächste Herberge in Rates.

Für mich fällt damit diese Herberge definitiv aus und ich schreite weiter bis in den nächsten Ort Arcos, in dem ich eine kleine aber feine Pension finde und wo man mir auf meinen besonderen Wunsch Spaghetti mit Zucker serviert. Ich habe an den Gesichtern sehen können, daß diese meine Leibspeise sehr verwirrt registriert wurde.

Gegen 9:00 Uhr verlasse ich die kleine Pension. Obwohl es bewölkt und frisch ist, läuft der Schweiß in Strömen. Die rechte Hüfte schmerzt, nachdem ich lange Strecken auf rauhem Kopfsteinpflaster zurückgelegt habe. Ich biege in einen schattigen Waldweg ein und entdecke ein Polstersitz auf einer kleinen Mauer. Erfreut setze ich mich darauf und ziehe Schuhe und Socken aus, um meinen Füßen etwas Erholung zu bieten. Ich staune nicht schlecht, als es hinter mir raschelt und ein Pärchen auf den Weg tritt. Der Herr eilt zu einem geparkten Automobil und rast davon. Die Dame dagegen steht vor mir und redet lauthals und gestikulierend auf mich ein. Ich verstehe nichts. Erst als sie „Dinheiros, Dinheiros“ schreit, wird mir schlagartig klar, daß ich hier irgendwelche Geschäfte störe. Lachend verziehe ich mich, nicht ohne ihren kurzen Mini-Rock und die Rundungen in ihrer viel zu knappen Bluse gebührend zu loben.

Ein Wochenende auf dem Jakobsweg kündigt sich frühzeitig an: Die Mountainbiker vervielfältigen sich plötzlich und flitzen laut diskutierend und ohne ein Wort des Grußes an mir vorbei. Auch hier nehmen sie wenig Rücksicht auf meine durch den schweren Rucksack limitierten Ausweichmanövermöglichkeiten. Ein Wochenende auf einer vielbefahrenen Landstraße kündigt sich ebenso frühzeitig an: Die Radrennfahrer spurten mir in Horden entgegen, sie schreien und scherzen und sie haben nur Augen für den Vordermann, der mir zwar in letzter Sekunde ausweichen kann, das kann aber nicht der Nachfolgende. Am Sonntagabend ist der Spuk dann meistens vorbei.

Jamey, der Australier, sitzt vor einem Café und lädt mich ein, eine Weile mit ihm zu plaudern. Er ist auf dem Weg nach Norden und hat so viele Fragen, die ich ihm nach bestem Wissen beantworte. Die letzten Kilometer führen durch eine verlassene Industriegegend, die ich gerne hinter mir lasse, nach Maia abbiege und im berühmten Puma Hotel ein Zimmer nehme. Leider gibt es in der Umgebung kein einziges Restaurant, also muß ich in einer Bar einen Salat und ein Bier bestellen. Und krieche danach sofort ins Bett.

Auf einer Durchgangsstraße mit regem Fahrzeugverkehr habe ich am nächsten Morgen die Stadt verlassen und nähere mich im Schrittempo Porto. Statt der Bäume und Sträucher flankieren jetzt Fabriken, Geschäfte, Häuser, zugeparkte Gehwege und Stolperfallen meinen Wanderweg. Auf den Gehwegen zu laufen macht keinen Spaß, weil diese wie gesagt zugeparkt sind und wellenförmig verlaufen, das heißt, daß der Gehweg vor jeder Einfahrt oder vor jedem Eingang abgesenkt ist. Dieses Auf und Ab strapaziert meine Gelenke so sehr, daß ich mutig und trotzig auf der Straße laufe. Die Autofahrer scheinen das nicht als störend zu empfinden und lassen mir meinen Willen. Kilometer um Kilometer schreite ich auf einer der Einfallstraßen auf die Großstadt zu, bis ich die Häuserschluchten erreicht habe und in ihnen eintauche.

Porto überrascht mich positiv und gerne bummele ich durch die Stadt und hinunter zum Flußufer, trinke einen Kaffee in einem vornehmen Restaurant und beobachte das laute und interessante Stadtleben. Sobald sich die Gelegenheit bietet, werde ich diese Stadt für mehrere Tage und mit genügender Zeit wieder besuchen und mir die Dinge ansehen, auf die ich jetzt als Pilger verzichten muß. Über die berühmte Stahlbrücke wende ich mich nach Süden, keuche hinauf in die Vororte und übernachte in einem kleinen Hotel. Ich bestelle mir ein Lachssteak und ein Bier, schaue mir dabei ein Fußballspiel mit Messi, Ronaldo und Khedira an und schlüpfe etwas später ins Bett.

Im Frühstücksraum des Hotels sprechen die Gäste durchweg Deutsch. Wie ich erfahre sind sie alle zu einer Hochzeit gekommen. Ich wünsche alles Gute, verabschiede mich und stapfe bei Nieselregen, Morgenfrische und dunklen Wolken bergauf. Eigentlich gute Bedingungen zum Laufen, jedoch muß ich erst einmal auf einer Landstraße weiterziehen. Aus Sicherheitsgründen schalte ich mein rotes Blinklicht ein und befestige es am Trageriemen meines Rucksacks. Es geht auf und ab in munterer Reihenfolge und dann urplötzlich nach rechts eine Böschung hinauf. Mehrmals überprüfe ich die Richtung und die Kennzeichnung, aber es gibt keine Zweifel, der Jakobsweg ist zu einem schmalen Trampelpfad geschrumpft. Sofort stelle ich mir einsame Pilger, böse Gesellen und Überfälle auf diesem Streckenabschnitt vor. Statt dessen muß ich mich vor Plastikstoßstangen aller Fabrikate, Müll und Bauschutt in acht nehmen.

Der Waldweg ändert sein Gesicht und ich schreite im Zickzack Kurs abwärts, auf überdimensionalen Steinplatten, die den Weg zwar befestigen, aber zum Laufen wahrlich nicht geeignet sind. Zwischendurch nieselt es und die Luftfeuchte ist so hoch, daß sogar meine Hosenbeine durchnäßt sind. Ich habe viel Zeit bei diesem stundenlangen und vorsichtigen Abstieg verloren. Also frage ich nach und suche mir ein Motel direkt an der nahen Nationalstraße N-1 in Santa Maria da Feira.

Der Rezeptionist prophezeit für den heutigen und auch für die folgenden Tage Regenwetter, und beim Hinaustreten vor das Hotel am nächsten Morgen hängen dunkle Wolken über meinem heutigen Streckenabschnitt. Wegen des Nieselregens ziehe ich den Regenponcho über und befestige mein rotes Blinklicht daran, weil ich einige Kilometer auf der Landstraße gehen muß. Erst gegen Mittag lege ich eine Pause ein und stelle fest, daß wieder einmal mein Navigationssystem mit den blauen Richtungspfeilen nicht unbedingt übereinstimmt. Diese Pfeile führen sehr oft zu wilden Müllhalden, die ich mir nicht unbedingt antun muß.

Mein Navigationssystem schlägt mir eine Abkürzung vor, der ich gern folge. Ich schreite einem serpentinenartigen, weichen Waldweg hinunter und nähere mich einer Biegung, an der ich deutlich Motorsägen Geräusche hören kann. Hoffentlich ist der Waldweg nicht gesperrt, denke ich, während die Motorsägen immer lauter aufheulen. Besorgt fällt mein Blick einen Hang hinauf, auf dem plötzlich mehrere dieser schlanken Bäume sich langsam aber stetig zur Seite neigen und in meine Richtung zu fallen drohen. Mein Navigationssystem signalisiert mir nur noch ein paar wenige Hundert Meter, doch ich ignoriere es diesmal und arbeite mich schnell wieder zurück über die Serpentinen zum Ausgangspunkt für meine Abkürzung. Diese wäre ideal für mich gewesen, so meint mein Navigationssystem später an einem Punkt, an dem der vorgeschlagene Abkürzungsweg auf den Caminho trifft.

In einem Wohngebiet verlieren sich plötzlich alle Richtungspfeile. Ich gehe ein paar Schritte in die eine, dann in die andere Richtung. Ich gehe zurück, ich gehe wieder vor und stehe dann ratlos mitten auf der Straße. Wie üblich sind die Rolläden aller Häuser heruntergelassen und ich kann niemanden nach der Richtung fragen. Doch eine alte Frau beobachtet mich kritisch durch ein kleines, vergittertes Fenster. Ich gestikuliere und will fragen, in welche Richtung ich als Pilger gehen soll. Da öffnet sie tatsächlich die Tür und erklärt mir wort- und gestenreich, nach Fátima müsse ich den Berg hinunter gehen. Ich bedanke mich mehrfach. Sie gibt mir zu verstehen, ich möge der Jungfrau in Fátima einen Kuß von ihr geben. Das verspreche ich.

Seit Tagen habe ich schon keinen Pilger getroffen, aber heute kommen mir zwei Radpilger entgegen. Wir tauschen Wegedaten und Wegbeschreibungen aus und wünschen uns einen sicheren Weg. Etwas später beende ich den Tag in einem einfachen Hotel in der Nähe von Arrifana, nicht bevor ich ein ebenso einfaches Restaurant aufgesucht habe. Sofort stellen der Wirt und ich Sprachschwierigkeiten fest, aber er reagiert völlig überraschend für mich: Ohne zu fragen stellt er mir ein gutes Abendessen auf den Tisch.

Wieder ist es bewölkt am Morgen und ich laufe mit Dynamik los. Die Gegend ist flach und baumlos und die Felder werden wieder größer und sind schon abgeerntet. Zum Mittag wird es sonnig und heiß. Immer öfter führt der Jakobsweg über Landstraßen und läßt bei mir eine gewisse Unsicherheit ob des Verkehrs aufkommen. Abwechslung gibt es kaum welche, abgesehen von der jungen Dame in rosafarbenen High heels, rosafarbenem Minirock, rosafarbener Bluse, rosafarbenem Dekolleté und rosafarbenem Handy, das sie ständig am Ohr hält und vorgibt, mit jemandem zu sprechen. Nein, sie hat keine Autopanne und ein Automobil ist auch nicht zu sehen. Wir scherzen, weil sie sich nicht vorstellen kann, den weiten Weg nach Lissabon zu laufen. Mit High heels womöglich.

Nach neun Stunden und drei Pausen und einer ersten Blase am Fuß stellt sich heraus, daß es kein Hotel weit und breit gibt. Also bleibt mir nur ein Feldbett bei der Freiwilligen Feuerwehr des Ortes als Alternative zu einer ausgesprochen einfachen Pension. Ich wähle die Pension in Albergia de Velha. Die Blase steche ich einfach auf, lege sie trocken und sprühe flüssiges Pflaster darauf. Damit ist dieses Thema für den Rest meiner Wanderung abgeschlossen.

Während der Nacht hat es geregnet und der Morgen zeigt sich wieder einmal stark bewölkt und frisch. Nach etwa zwei Stunden Marsch zieht eine Regenwand auf und ich flüchte im letzten Moment unter das schützende Dach einer Tankstelle. Nach über einer Stunde kann ich weiterziehen und entscheide mich erst einmal für die laute und gefährliche Nationalstraße N-1. Der ausgeschilderte Jakobsweg verläuft mal mehr mal weniger parallel zur Landstraße und ist zu einer rutschigen Bahn geworden. Gegen Mittag meint es die Sonne gut mit mir und läßt mich den Regenponcho wieder verstauen.

Heute habe ich von einem Croissant, einer Banane und einer Scheibe Toastbrot, dazu zwei Milchkaffee und zwei Cola Light den Tag über gelebt. Deshalb wundere ich mich über die noch in mir steckende Energie. Ich marschiere weiter und erschrecke, als erst ein Automobil mit aufheulendem Motor aus dem Gebüsch an mir vorbei schießt, und dann eine noch nicht ganz bekleidete Dame in Stöckelschuhen das Gebüsch verläßt. Sie scheint ärgerlich zu sein, habe ich womöglich etwas gestört?

Während ich vor einem Café eine Pause einlege, spricht mich vom Nachbartisch ein freundlicher Portugiese an. Er kann meine Frage nach einem Hotel sofort positiv beantworten und zeichnet mir sogar eine Skizze, wie ich auf kürzestem Weg dieses Hotel in Agueda finden kann. Ich finde es sehr schnell und bin dankbar, daß ich wieder einmal eine Wäschewaschstunde einschieben darf.

Am nächsten Morgen werde ich von der Sonne begrüßt, packe meinen Rucksack und nehme noch ein Frühstück im Hotel, bevor ich loslaufe. Wieder treffe ich auf eine Gruppe Deutscher, die in der Gegenrichtung unterwegs sind. Man lächelt mich an und erwähnt einen sehr steilen Abstieg, der sich dann für mich als steilster Anstieg auf dem gesamten Weg entpuppt. An einer Kreuzung stoppt ein portugiesischer Autofahrer, begrüßt mich freundlich, reicht mir einen Beutel mit einer Flasche Wasser und zwei Äpfeln und wünscht mir einen sicheren Wanderweg. Dieser führt mich durch nunmehr flaches Gelände und auf leicht zu begehenden Wegen.

Duarte aus Toronto kommt mir entgegen, der mir sogleich von seinen portugiesischen Wurzeln erzählt. Während wir uns unterhalten, nähert sich Maria aus Ungarn und gesellt sich zu uns. Maria ist vor vier Monaten in Budapest gestartet und seither 4.000km gewandert. Ihr Ziel ist es, Fátima in den nächsten Tagen zu erreichen. Wir beschließen, ein paar Tage zusammen zu laufen und uns dann an geeigneter Stelle zu trennen, denn mein Ziel ist ja das südlichere Lissabon. Maria geht diesen Weg ohne irgendwelche Geldreserven, schläft in verlassenen Häusern, in Kirchen oder bei der Freiwilligen Feuerwehr, in Herbergen oder auf Einladung bei Privatleuten. Sie wandert in Sandalen und dazu barfuß, und sie hat einen schnelleren Schritt als ich. Während der nächsten Tage wandern wir nicht nur zusammen, sondern ich lade sie dazu ein, im Hotel mit mir in ihrem eigenen Zimmer zu übernachten und mit mir Cafés und Restaurants zu besuchen.

Wir beide kommen nach einem heißen Nachmittag in Mealhada an, finden sofort den Wegweiser zur Freiwilligen Feuerwehr, der neben einem Wegweiser zum einzigen Hotel des Ortes plaziert ist. Ich schaue Maria an, wir lachen und laufen in Richtung des Hotels. Am ersten Abend gesteht sie mir: „Weißt Du, was das schönste Geschenk für mich heute war? Zwei Stunden in der heißen Badewanne zu liegen!“ Ich dagegen habe die Gelegenheit genutzt und habe sämtliche Wäsche gewaschen. Also meine eigene.

Auf besonderen Wunsch einer einzelnen Dame folgen wir am nächsten Morgen strikte dem Caminho de Fátima und verlieren über den Tag gesehen etwas Zeit, weil wir die Abkürzungen über die Nationalstraße N-1 meiden, wie der Teufel das Weihwasser. Als wir dann doch ein paar Kilometer die Landstraße laufen müssen, entdeckt Maria einen kleinen Hund, der wohl angefahren worden und erbärmlich zugerichtet ist. Sogleich stürme ich in eine Tankstelle und bitte um Hilfe: Wo gibt es einen Tierarzt, kann die Polizei benachrichtigt werden, oder vielleicht die Feuerwehr, oder einen Jäger? Man sieht mich verständnislos an und bedauert und wendet sich ab.

Zum Glück marschieren wir einen einsamen Weg und jeder von uns hängt erst einmal seinen eigenen Gedanken nach. Nach ein paar Stunden entscheiden wir, meinem Navigationssystem zu folgen und nehmen eine Abkürzung direkt in die Innenstadt von Coimbra. Wir quartieren uns im Tivoli Hotel ein und schlendern abends durch die Altstadt, essen in einem netten Lokal und lassen den Tag einfach ausklingen. Zuvor bekundet Maria ihr Interesse am weiteren gemeinsamen Laufen.

Vormittags erklimmen wir mehrere Hügel und folgen dem Pilgerweg, soweit er erkennbar ist. Und dann nieselt es wieder und ein frischer Wind zieht auf, der uns nachmittags frösteln läßt. Abseits laufen hat den Nachteil, daß wir an sehr wenigen Cafés und Bars vorbeikommen. Wir beratschlagen an einer Kreuzung, ob wir uns hier trennen, damit Maria ihren Weg mehr westlich nach Fátima verfolgen und ich mich weiter nach Süden halten kann. Wir laufen nur noch heute zusammen, beschließen wir, und halten zum ersten Mal an diesem Tag an einer dörflichen Bar. Mehrere Portugiesen sitzen zusammen und beobachten uns auffällig. Und kaum haben Maria und ich uns auf einen Kaffee verständigt, begrüßt uns überschwenglich einer der Portugiesen in fast tadellosem Deutsch. Viele Jahre lebte und arbeitete er in Wesel und ist ganz aufgeregt, als Dolmetscher die vielen Fragen und Antworten der Umstehenden zu übersetzen. Wir sitzen alle an einem großen Tisch und scherzen und erklären. Als wir aufbrechen wollen, fährt einer der Portugiesen ein Automobil vor, läßt uns einsteigen, dazu noch unseren Dolmetscher und den Fahrzeugeigentümer (er habe zuviel getrunken!) und kutschiert uns unter Lachen nach Condeixa zu einer Pousada. Vorher jedoch will der Dolmetscher an seinem Haus vorbeifahren, um uns etwas Ausgefallenes zu zeigen: Und tatsächlich hat er in seinem Vorgarten einen lebensgroßen Esel aufgestellt. Dieser ist ein Geschenk von Freunden aus Wesel. Wie heißt der Bürgermeister von Wesel…?

Der letzte, gemeinsame Morgen begrüßt uns mit einem blauen Himmel, Sonne und frischem Wind. Wir wandern eine Landstraße entlang und sammeln dadurch mehrere Kilometer bis zum Mittag. In einem ländlichen Gasthof serviert man uns das einzige Gericht, das zur Auswahl steht. Suppe und Tintenfisch. Wir stimmen zu und genießen, um sofort danach wieder die Kilometer aufzulesen. Leichte Hügel fordern uns nicht heraus, statt dessen genießen wir den ruhigen Wanderweg, der sich durch die offene Landschaft schlängelt, und das wundervolle Wetter dazu. Am späten Nachmittag erreichen wir Ansião und übernachten in einem kleinen Hotel. Nach dem Abendessen beugen wir uns über die Landkarte und stellen fest, daß wir doch noch einen Tag zusammen laufen wollen. Ich werde Maria ein gutes Stück begleiten und dann nach Süden abbiegen, auch wenn es ein paar Kilometer Umweg für mich sein wird.

Am nächsten Tag folgen wir strikte dem Caminho und merken sehr schnell, daß wir einen wunderschönen Wandertag und Wanderstrecke ohne Straßenlärm vor uns haben werden. Gleichmäßig schreiten wir dahin und sind in Gedanken versunken. Nach einigen Stunden liegt die Weggabelung vor uns, an der wir uns jetzt aber wirklich trennen müssen. Danach kann ich für eine Weile das entfernte Hundegebell hören und weiß, wo Maria gerade dahinschreitet, ihrem Ziel entgegen. Ich lenke nunmehr meine Schritte in südliche Richtung und marschiere munter weiter. Eine Pause lege ich für meine Füße ein, eine weitere Pause für einen Kaffee und eine letzte Pause für eine Cola mit Keks.

Ein Südafrikaner hält neben mir an, verwickelt mich in ein kurzes Gespräch und empfiehlt mir eine kleine Pension in Alvaiazere. Dieser Empfehlung folge ich und lege die letzten Kilometer durch eine verbrannte Landschaft zurück. Auf der rechten Straßenseite sind Gras, Büsche und kleinere Bäume völlig verbrannt und die wenigen großen Bäume strecken nur noch schwarze, größere Äste in den Himmel. Auf der linken Seite der Straße hatte man das Feuer wohl verhindern können. Nach einer Weile stehe ich staunend vor einer Feuerwehrstation, um die herum alles verbrannt und deren Außenwand stark geschwärzt ist.

Der Wirt der kleinen Pension ist ziemlich wortkarg. Er drückt mir wortlos den Zimmerschlüssel in die Hand und deutet zum Hauseingang. Ich schleppe meinen Rucksack einen engen Treppenaufgang hinauf und muß über das viel zu kurze Bettgestell laut lachen. Wie auch in anderen Herbergen und Pensionen sprühe ich mein Autan erst einmal unter und neben die Matratze, in der Hoffnung, von Bettwanzen verschont zu werden. Beim Eintreten in das Restaurant, zu dem die Pension gehört, stellt mir der Wirt wortlos eine reichliche Pilgerspeise auf den Tisch, dazu serviert er immer noch wortlos einen Rotwein. Und das Besucherbuch, in das ich mich eintragen soll. Nachdem weitere Gäste in das Restaurant gekommen sind, beachtet mich der Herr Wirt überhaupt nicht mehr und läßt mich fühlen, daß ich hier nur ein Pilger und damit ein Gast zweiter Klasse bin.

Morgens regnet es in Strömen. Ich warte deshalb und nutze eine kurze Regenunterbrechung, um in ein Café zu sprinten und erst einmal zu frühstücken. Dabei beschließe ich, auf der Nationalstraße N-110 so lange weiterzulaufen, bis es nicht mehr regnet. Bei strömendem Regen und LKW-Verkehr auf einer schmalen Landstraße zu laufen ist recht mutig. Kilometer um Kilometer kämpfe ich mich nach Süden, habe mein rotes Blinklicht eingeschaltet und beobachte den mir entgegenkommenden Verkehr. Wann immer ein Autofahrer eine Lenkbewegung macht und Abstand zu mir herstellt, bedanke ich mich freundlich.

Am Nachmittag habe ich eine blendende Idee: Neben einer einsamen Bushaltestelle betrete ich ein ebenso einsames Café. Ich frage nach, ob ein Bus nach Tomar fahren würde, und wenn ja, wann. Die Antwort kommt prompt: Ein Bus nach Tomar komme erst in drei Stunden. So entscheide ich mich, einfach weiterzulaufen und an einer der nächsten Bushaltestellen in etwa drei Stunden den Bus abzuwarten. Also marschiere ich los. Nach etwa einer Stunde nähert sich von hinten ein Kleinbus, bleibt stehen und ein Hippie springt heraus: „You need a lift?“ Ich zögere nicht lange und springe in den Bus mit englischem Kennzeichen. Der Fahrer erklärt, er habe mich in diesem Café nach dem Bus fragen hören, und weil es eine riesige Straßenbaustelle kurz vor Tomar geben würde, sei es sicherer, mit ihm im Kleinbus zu fahren. In der Tat sehe ich etwas später diese Baustelle, an der man auf Pilger keine Rücksicht genommen hat, denn für Fußgänger gibt es dort kein Durchkommen.

Kaum bin ich in Tomar angekommen, klart das Wetter auf, der Regen endet und die Sonne scheint, als wäre sie schon den ganzen Tag am Scheinen. Die Stadt ist ein kleines Juwel, die stolze Burg thront auf dem Berg und das Hotel ist seine Sterne wert. Ich werde hierher wieder einmal kommen. Weil das Fernsehen aber nur regnerische Aussichten für den kommenden Tag bereit hält, überlege ich, ob ich nicht einen Pausentag einlegen sollte. Ich mache diese Entscheidung vom morgigen Wetter abhängig.

Unterwegs sind meine ständigen Wegbegleiter ausgeblieben, sie haben sich alle bei diesem Regen verkrochen. Keine Eidechse, die mich neugierig ein paar Schritte begleitet. Keine Grashüpfer. Sogar die Kettenhunde haben sich verkrochen und lassen mich kommentarlos vorbeiziehen. Auch die Ameisen, die fleißig in den Asphaltrinnen ihr Tagespensum erledigen wollen, haben einen Ruhetag eingelegt.

Wie üblich regnet es die Nacht hindurch und auch noch am Morgen. Meine Schuhe habe ich mit Zeitungspapier ausgestopft, aber gänzlich trocken sind sie noch nicht. Gegen 10:00 Uhr laufe ich bei Nieselregen los, verlasse das Tal und darf wieder einmal eine fast unmenschliche Steigung erklimmen. Etwas später zwängt sich die Sonne durch die Wolken. Heute folge ich ausschließlich meinem Navigationssystem und bereue es nicht, denn ich habe eine leicht hügelige aber abwechslungsreiche Strecke vor mir. Wegen des Regens sind einige Abschnitte recht matschig und glitschig, aber dann folgt ein steiniger Abschnitt.

Auf den abgeernteten Flächen steht das Regenwasser und Wolken und Sonne spiegeln sich darin. Ein Jäger kommt mir entgegen und grüßt freundlich. Auf meine Frage, auf welches Wild er denn aus sei, bedauert er die Situation und meint lapidar, die Kaninchen haben sich bei diesem Wetter im Bau verkrochen und er gehe wohl oder übel heute leer aus. In einem winzigen Geschäft erstehe ich einen Kaffee, ein Croissant und ein paar
Weintrauben. Als ich nach dieser kleinen Pause weitermarschiere, verspüre ich mehr und mehr ein gewisses Jucken am Rücken. Ich kann mir nicht erklären, was das wohl sein kann. Als ich mir dann aber den Schweiß von der Stirne wische, stelle ich dort richtige Beulen fest. Irgendwann kann ich mir im Außenspiegel eines Automobils mein Gesicht betrachten und muß schon darüber lachen. Schnell schlucke ich eine Calcium Tablette und gehe weiter.

Die letzten Kilometer muß ich auf einer vielbefahrenen Landstraße zurücklegen. Der Seitenstreifen besteht aus riesigen Steinplatten und das Laufen darauf wird mehr und mehr zur Qual. Ich bin der Meinung, ich habe meine Muskel und Gelenke nunmehr genügend trainiert, aber dieser Marsch fordert meine Extremitäten erneut. Hinzu kommt, daß ich immer ein wachsames Auge auf den Gegenverkehr haben muß. Schließlich gibt es zwei Gruppen von höchst gefährlichen, portugiesischen Autofahrern: Das sind zum einen Frauen am Steuer; sie ändern die Lenkradstellung um keinen Millimeter und rasen knapp an mir vorbei. Aber die gefährlichste Gruppe sind Frauen am Steuer mit dem Handy am Ohr; sie streifen mit dem Außenspiegel meinen rechten Ellenbogen. Da hilft nur eine Wasserflasche, die ich seitlich von mir in den Verkehr halte.


Langsam nähere ich mich der berühmten Pferdestadt Portugals, Golegã. Ich betrete das Hotel und werde von der Rezeptionistin entsetzt angeschaut. Nein, nicht wegen meiner verschlammten Schuhe, sondern wegen meiner Beulen im Gesicht. Nachdem ich aber glaubhaft versichert habe, es sei wirklich nicht ansteckend, versorgt sie mich mit wundervoll riechenden Salben, die auch meinen zusätzlichen Sonnenbrand lindern.

Wo aber sind denn die Pferde? Nördlich der Stadt habe ich gestern kein einziges Pferd entdecken können. Und auch südliche der Stadt scheint es keine zu geben. Zwischendurch passiere ich zwar große, stattliche Einfahrten zu Gutshöfen, aber Pferde gibt es nur auf den Willkommensschildern vor der Stadt. Ich laufe weiter nach Süden und bleibe erst einmal auf der Nationalstraße N-365 und freue mich an nur vereinzelten Verkehrsteilnehmern. Es ist wieder sonnig und trocken. Ich verlasse mich auf mein Navigationssystem und schlage eine Abkürzungsroute ein. An einem verlassenen Bauernhof sitze ich auf der brüchigen Steinmauer und pausiere. Ein Automobil kommt mir entgegen. Nach einiger Zeit kommt dieses Fahrzeug zurückgefahren, bleibt stehen und ein junges Paar stellt die inzwischen übliche Frage, ob ich nach Santiago wolle. Als ich verneine, lachen wir gemeinsam und sie fahren wieder davon.

Die beiden Männer sehen wild aus. Sie entladen gerade einen zerbeulten Pickup und schauen auf, als ich bei ihnen stehenbleibe. Obwohl ich absolut sicher sein kann, auf dem richtigen Weg zu sein, frage ich die Beiden, ob das der richtige Weg nach Santarém sei, was sie bejahen. Meine Befürchtung, es ginge sehr steil hoch in die Stadt, quittieren sie mit einem breiten Lachen. Ich verabschiede mich und schreite weiter. Links und rechts der Straße breiten sich großflächige Felder aus. Ich kann mir riesigen Beregnungsanlagen aus der Nähe betrachten, weil die Felder schon abgeerntet sind und ich eine weite Sicht habe.

Die Stadt Santarém ist gut zu erkennen, wie sie auf diesem Felsvorsprung thront. Nach einer Stunde sind schon die einzelnen Gebäude zu erkennen. Nach einer weiteren Stunde meine ich die Serpentinen hinauf in die Stadt deutlich ausmachen zu können. Da hält ein zerbeulter Pickup neben mir und die beiden Gestalten bieten mir lachend an, mir die Steigungen zu ersparen. Ebenso lachend bedanke ich mich, werfe meinen Rucksack auf die Ladefläche und klettere in das Fahrzeug. Sie fahren mich die steilen Straßen hinauf ins Zentrum der Stadt und laden mich vor dem Hotel ab.

Der nächste Morgen begrüßt mich mit schönem, sonnigem Wetter. Eine Radrennveranstaltung in der Umgebung bietet ein wenig Abwechslung, auch wenn ich an der einen oder anderen Stelle deshalb einen kleinen Umweg laufen muß. Aber erst einmal muß ich aus der hoch gelegenen Stadt die Serpentine hinunter ins Tal, was mein Knie mit Schmerz quittiert. Sowohl der kaum gekennzeichnete Caminho, als auch mein Navigationssystem und auch die Straßenkarte lassen mir keine große Wahl, ich muß den Großteil der Strecke auf Nationalstraßen gehen. Linkerhand dehnt sich langsam der Fluß Tejo aus und hält die Ackerflächen durchweicht, rechterhand verläuft die Autobahn und dahinter eine Hügelkette. In beiden Fällen zum Wandern wahrlich nicht geeignet.

Felder und kleine Waldstücke weichen nun Industrieanlagen, von denen sehr viele verlassen und teilweise schon verfallen sind. Kleine Orte und Gebäudeansammlung liegen verwaist zu beiden Seiten der Straße. Asphalt und Beton federn meine Schritte nicht mehr ab, und so bemerke ich den Ansatz einer weiteren roten Stelle am meinem Fuß. Ich behandle sie vorsichtig, lege sie trocken, sprühe Pflaster und klebe zusätzlich noch ein Blasenpflaster darauf.

Ohne weitere Probleme und nach ein paar Stunden erreiche ich Cartaxo und suche mir hier, obwohl ich noch weiter laufen könnte, ein kleines Hotel. Aber die nächste Übernachtungsmöglichkeit wäre für heute zu weit entfernt. Auch diese Stadt ist mir in guter Erinnerung, schließlich waren wir hier einmal zusammen in einem großen, überregionalen Ledergeschäft mit sehr ausgefallenen Bekleidungsstücken und Accessoires.

Morgens ist es wieder leicht bewölkt aber trocken. Nach einem Frühstück und einer weiteren Behandlung meiner empfindlichen Stelle am Fuß breche ich auf. Vielleicht sollte ich jetzt mit Sandalen laufen? Es ist mir zu riskant und ich schnüre meine Stiefel. Kaum losgelaufen beginnt es wieder zu nieseln. Aber dann bleibt es doch noch trocken. Mittags zeigt sich sogar die Sonne. Auf der Nationalstraße N-3 mit ihrem breiten Standstreifen ist es schon fast angenehm zu laufen. In Carregada endet diese Nationalstraße und ich biege ab auf die Nationalstraße N-10, die mich jetzt bis nach Lissabon bringen wird. Irgendwann später erreiche in Vila Franca de Xira und finde am Stadtrand sofort ein Hotel. Abends im Restaurant komme ich ins Gespräch mit Falk, dem Thüringer, der gerade die Abfüllanlage der Firma Sagres in der Nachbarschaft umprogrammiert und mir staunend zuhört, während ich von meinen Begegnungen auf dem Pilgerweg erzähle.

Es scheint, daß mein vorletzter Wandertag sich von seiner schönsten Seite zeigen will. Herrliches Wetter zum Wandern, auch wenn ich zwangsläufig wieder die Nationalstraße laufen muß. Kurz vor Alhandra wende ich mich dem Fluß zu und marschiere dicht am Ufer entlang. Das kleine Café neben dem kleinen Fischerhafen hat sich seit meinem letzten Besuch herausgeputzt. Ich lasse mich auf einen Stuhl sinken und gebe meine (damals) übliche Bestellung auf: "Galão e Pão de Leite". Der Kellner schaut mich an, überlegt kurz und stellt fest: „You have been here before, I remember you.“ Nach dieser Pause und mit einem besorgten Blick auf die heranziehenden dunklen Wolken breche ich auf und begleite den Fluß weiter nach Süden, bis ich wieder auf die Nationalstraße mit ihrem Lärm und Gestank abbiege.

Das anhaltende Dahinschreiten auf Asphalt und Beton fordert doch langsam seinen Tribut von meinen Gelenken: Das Knie schmerzt stärker und ich muß öfter kurz anhalten. Von nun an gibt es nur noch Fahrzeuglärm, Flugzeuglärm, Industriegebäude, Chemie- und sonstige Abfälle, und einen lockeren Potpourri aus Gestank, Diesel, Abwässern und anderen undefinierbaren Gerüchen. Ich kenne die Strecke, weil ich früher hier schon mehrmals mit dem Fahrrad und auch dem Motorrad gefahren bin. Deshalb schrumpfen die Kilometer für mich auf seltsame Weise zusammen und am späten Nachmittag bitte ich einen Passanten, mich vor dem Ortsschild von Sacavém zu fotografieren, dem ersten Vorort von Lissabon.



Ich laufe auf den mir allzu bekannten Straßen und Wegen hinunter zum Beginn der Brücke Ponte Vasco da Gama, dann weiter zum Expo-Gelände und dann parallel zum Fluß Tejo bis zum Shopping Center Vasco da Gama und hinüber zum Hotel Tivoli Tejo in Lissabon, am Bahnhof Gare do Oriente.

Natürlich lasse ich es mir nicht nehmen und marschiere am nächsten und letzten Tag vom Hotel am Expo-Gelände zum Terminal 1 am Flughafen. Von meinem Fensterplatz aus schaue ich später so lange es möglich ist hinunter auf Lissabon und danach auf den Caminho, den ich in den zurückliegenden vier Wochen gemeistert habe.

© OScAR 2012 (Stark verkürzte Ausgabe)



Mittwoch, 21. März 2012

NilToleranz


Womit und wohin und wann auch immer man sich fortbewegt, von allen Teilnehmern um einen herum erfährt man jederzeit ein hohes Maß an Toleranz. Man hupt sein "Dankeschön" und erntet ein gehuptes "Bitteschön". So einfach funktioniert das, solange eine Hupe zur Hand; ob am Auto, am Motorrad, am Fahrrad, am Nilboot, an einer Pferdedroschke oder einem Eselskarren. Fußgänger und Esel bilden da jedoch die Ausnahme.

Überraschenderweise gleichen die mir weltbekannten Verbotsschilder, also rund mit rotem Rand und einem durchgestrichenen Symbol, den hiesigen Gebotsschildern.

Beispiel: Hupe. Es ist das erste Verkehrszeichen am Straßenrand direkt nach Verlassen des Flughafengeländes. Mein Taxifahrer nimmt es sehr genau und beginnt sofort sein individuelles Hupkonzert, kaum daß er dieses Zeichen passiert; erst vor dem Hotel legt er eine Huppause ein.

Beispiel Überholen. Mein Taxifahrer überholt gebotsmäßig an nach meinem Gefühl völlig ungeeigneten Stellen, und es verdichtet sich bei mir der begründete Verdacht, daß man diese Schilder nicht sehr genau nimmt oder schlichtweg falsch plaziert hat.

Dazwischen hat er auf seinem Weg jeden einzelnen Verkehrsteilnehmer exakt drei Mal hupenderweise begrüßt: Bei Annäherung, direkt hinter ihm, und während des Passierens. Alle beteiligen sich an diesem vielstimmigen Konzert. Motorräder scheinen sogar eine Hupenweiterentwicklung ein- oder angebaut zu haben, denn diese hupen kontinuierlich, stakkatoartig, oder auf- und abschwellend, solange sie rollen.


Mein Taxifahrer fährt wie jeder andere Verkehrsteilnehmer auch in der Dunkelheit grundsätzlich ohne Beleuchtung. Die Innenraumbeleuchtung sei hier nicht eingeschlossen. Hat er das Gefühl, daß ein Fahrzeug entgegenkommen könnte, blendet er kurz auf, um sich zu vergewissern und um sich selbst kurzzeitig bemerkbar zu machen; der Entgegenkommende folgt seinem Beispiel. Danach fährt jeder wieder im Dunkeln. Auf meine Frage, weshalb man auf Licht während des Fahrens verzichtet, lerne ich einmal mehr etwas über Toleranz im Straßenverkehr: Mit meinem Licht verärgere ich eventuell den Gegenverkehr, ist seine verblüffende Erklärung.

Wir überqueren den Staudamm auf einer ziemlich schmalen Straße. Im Dunkeln. Und damit sich Entgegenkommende orientieren können, wie breit das eigene Fahrzeug ist, wird kontinuierlich von allen Fahrern jeweils links geblinkt. Im Dunkeln.

Die meisten Straßen zeigen sich in schlechtem Zustand: Löcher, in denen Zwei- und Vierbeiner verschwinden könnten; Steinansammlungen und wilde Absperrungen verhindern das Schlimmste; Straßensperren und fahrgestellzerlegende Schweller tauchen nicht nur im Dunkeln ohne Vorwarnung auf und zwingen zu einem Schleichtempo und manchmal zu einem kurzen Stillstand; Schnellstraßenauf- oder Abfahrten sind sehr beliebte Versammlungs- und Parkplätze; schnell ist ein Wasserkocher in Gang gesetzt und der süße Tee vertreibt die Wartezeit. Auf was man dort auch immer warten mag.


Mehrmals gehe ich an diesem Verkehrszeichen vorbei, das wohl einen Kreisverkehr ankündigen soll. Blauer Rand und drei Pfeile ringförmig angeordnet. Nachts ist es beleuchtet und die drei Pfeile sind sogar animiert. Und wieder stehe ich davor und frage mich, was so auffällig an diesem Zeichen zu sein scheint. Nach einer Weile habe ich entdeckt, daß diese drei Pfeile im Uhrzeigersinn angeordnet und auch animiert sind! Also ist der Kreisverkehr links herum zu befahren. Oder?

Ob im Kreisverkehr oder auf normaler Straße, man begegnet immerzu Mitmenschen auf Abwegen, die Nachsicht voraussetzen und auch erwarten können. Jeder manövriert sich so gut er kann hindurch. Die einzige Karambolage sehe ich auf einer kürzlich ausgebauten Straße, denn dort ist ein Minibus in einen der Krater gefallen und hat sich das Vorderrad abgerissen.


Bei Dunkelheit erstrahlen Motorräder in besonderem Schein. Die Rücklichter blinken in allen Farben und Rhythmen um die Wette, die Vorderpartien dagegen sind Ausdruck höchster Individualität: Rote Lampen, grüne Umrahmungen, blaue Warnblinker, bunte Weihnachtsbäume, aber keine normalen Scheinwerfer. Das vordere Nummernschild steckt lose an der Gabel.

3-4 Passagiere auf einem Motorrad ist der normale Anblick; eine komplette Familie sehe ich auch, wobei die Mutter im Damensitz noch ein Baby unter ihren Arm klemmt. Auch ein Sozius, der eine riesige Glasscheibe aufrecht und gegen den Fahrtwind balanziert. Nicht zu vergessen der Motorradfahrer mit den überlangen Rohren auf seiner Schulter. Oder eine Ladung Fladenbrot, die ein Fahrradfahrer auf seinem Kopf gemütlich durch das Verkehrs- und Fußgängergewühl manövriert.


Aus der Entfernung betrachtet gleicht der Straßenverkehr dem Gewirr einer Ameisenkolonie; jeder bewegt sich in seine gewünschte Richtung und toleriert die anderen Teilnehmer, toleriert deren Wege, deren Transportprobleme und deren Art der Fortbewegung. Nach einem Tag des Beobachtens wage ich schließlich, mit geschlossenen Augen die vielbefahrene Straße zu überqueren...und würde unbeschadet auf der anderen Seite ankommen, wenn da nicht dieses Loch im Pflaster wäre...Autsch!

© OScAR 2012.